Das jüdische Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands ist ähnlich alt wie das christliche: Der älteste Nachweis, ein Edikt über die Rechte und Pflichten jüdischer Bürger*innen in der römischen Stadt Köln, stammt aus dem Jahr 321. Daher feiert die Bundesrepublik in diesem Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – mit einem Festjahr, das dezentral mit rund tausend Veranstaltungen begangen wird. Einer dieser Orte ist Esslingen. In den vergangenen neun Jahrhunderten wurde jüdische Präsenz in Esslingen mehrfach ausgelöscht und immer wieder neu begründet. Diese Geschichte und die Gegenwart zwischen Kreativität und Alltag, Resilienz und Bedrohung ist die Basis der künstlerischen Beiträge für dieses besondere Experiment: Bei einem individuell begehbaren Soundwalk mit eigens entwickelten Stücken von sieben zeitgenössischen Komponist*innen entfalten sich die so oft übersehenen Spuren, die das Judentum am Neckar hinterlassen hat, neu und lebendig. Entlang historischer wie gegenwärtiger Orte jüdischen Wirkens entstand in den letzten Monaten ein eindrücklicher musikalischer Parcours, der über das Smartphone jederzeit und zeitsouverän erlebbar ist.
Heute hat die Esslinger Gemeinde etwa 300 Mitglieder. Ihre Synagoge ist wieder das 1819 erworbene Fachwerkhaus Im Heppächer, mitten in der Altstadt. 2019 konnte darum das 200. Jubiläum der Synagoge gefeiert werden. Solche erfreulichen Ereignisse können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in Deutschland wieder verstärkt ein offen gelebter Antisemitismus entwickelt. Diesem entgegenzutreten ist ebenfalls ein zentrales Anliegen des Soundwalk-Projekts. Mit einem speziell auf Jugendliche zugeschnittenen Podcast und einem pädagogischen Begleitprogramm macht PODIUM auch den Esslinger Schulen ein Angebot, um u.a. die neue Alltäglichkeit des jüdischen Lebens in der Nachbarschaft kennenzulernen.
1819 war die eben neu gegründete jüdische Gemeinde längst wieder groß genug für eine eigene Synagoge, aber zu klein für einen Neubau. Mit dem mittelalterlichen Zunfthaus der Schneider fand man aber ein Gebäude, das zum Verkauf stand und ideal nach Jerusalem ausgerichtet war, Voraussetzung für die Einrichtung einer Synagoge. Hier wurde bald ein Gemeindezentrum eingerichtet, das bis 1938 bestehen sollte. Vor allem die Umbauten von 1889 spiegeln den Reformgeist der Esslinger Jüd*innen: Die strenge Raumteilung der Geschlechter im Betsaal wurde aufgeweicht, die Kinder und Jugendlichen wurden in die Mitte platziert, ins Zentrum der Gemeinde. Seit 2012 ist das Haus wieder ein Zentrum jüdischen Lebens in Esslingen – 2016 zog gar eine neue Tora-Rolle in die Synagoge ein.
2: Die Schmale Gasse
Die ersten jüdischen Familien lebten mitten unter den christlichen Esslinger*innen. Erst im 16. Jahrhundert entwickelte sich überall in Europa die Tendenz, Jüd*innen ausgewiesene, räumlich klar von der Stadtgemeinschaft abgetrennte Wohngebiete zuzuweisen. Esslingen war 1530, als der Rat der Stadt die Jüd*innen in der seitdem für Jahrhunderte so genannten “Judengasse” ghettoisierte, also voll im Trend. Schon 1542 beschloss der Rat dann ihre endgültige Ausweisung.
3: Wilhelmspflege
Unter der progressiven Gesetzgebung des württembergischen Königs Wilhelm wurde Esslingen zu einem Zentrum jüdischer Pädagogik. Im 1841 gegründeten Israelitischen Waisenheim sollten jüdische Kinder und Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen zu toratreuen Jüd*innen und patriotischen Württemberger*innen zugleich werden. Die Direktoren setzten dabei auf familienähnliches Zusammenleben ohne körperliche Züchtigungen. Der Neubau der Institution oberhalb der Burg ist heute nach dem letzten Leiter Theodor Rothschild benannt. Das Haus wurde 1938 im Rahmen der Novemberpogrome verwüstet, die Kinder deportiert. Heute gehört es der ‘Stiftung Jugendhilfe’.
4: Grab von Chasan Mayer Levi
Mayer Levi (1814-1874) gehörte zu den ersten Chasanim, die in Esslingen selbst ausgebildet wurden – Chasanim oder Kantoren sind Vorbeter in der jüdischen Gemeinde. Levi zog als Kleinkind mit seiner Mutter nach Esslingen, studierte als Jugendlicher am dortigen Lehrerseminar. Nach mehreren Anstellungen als Kantor in Süddeutschland kehrte er 1843 zurück. Er gründete einen Synagogenchor, lehrte Gebetsgesänge am Lehrerkolleg und katalogisierte sie. Seine Pläne, nach Amerika auszuwandern, setzte er nie um. Stattdessen hinterließ er der europäischen Welt eine der bedeutendsten Sammlungen von aschkenasischen liturgischen Gesängen aus der Zeit der jüdischen Emanzipation. Sein Grab ist das erste in der jüdischen Sektion des städtischen Ebershaldenfriedhof und bis heute erhalten.
5: Der Hafenmarkt
Der Hafenmarkt gehörte zu den wohlhabendsten Gegenden des mittelalterlichen Esslingens. Trotz der religiös motivierten Feindschaft ihres Umfelds stand hier, im Zentrum der Reichsstadt, die erste Esslinger Synagoge. Die erste jüdische Gemeinde aus dem 13. Jahrhundert blühte, Werke der jüdischen Esslinger Buchkunst sind bis heute weltberühmt. Doch der Markt ist auch Schauplatz des ersten antijüdischen Pogroms der Stadt: 1348 trieben christliche Esslinger*innen ihre Mitbürger*innen in die Synagoge und zündeten sie an, weil sie den Jüd*innen Schuld an der Ausbreitung der Pest gaben. Es dauerte Jahrhunderte, bis sich eine neue Gemeinde langfristig etablieren konnte.
6: Alter jüdischer Friedhof
Unmittelbar vor den Stadtmauern lag der erste moderne jüdische Friedhof Esslingens: Nach der Neugründung der Gemeinde 1806 wurde er 1807 eingeweiht. Schon bald reichte der Platz nicht mehr: Versuche, Nachbargrundstücke zur Erweiterung zu kaufen, scheiterten, stattdessen machte sich der wieder aufkeimende Antisemitismus in Grabschändungen bemerkbar. Ab 1874 wurden Esslinger Jüd*innen wie ihre nichtjüdischen Mitbürger*innen auf dem Ebershaldenfriedhof bestattet. Der alte Friedhof wurde in der Zeit des Nationalsozialismus als Lagerplatz genutzt und weitgehend zerstört.
7: Weg der Tora-Rolle
2012 wurde die neue, alte Synagoge Esslingens neu geweiht. Ein noch größeres Fest für die jüdische Gemeinde war allerdings der Einzug der Tora-Rolle 2016, gestiftet von Akteur*innen der Esslinger Zivilgesellschaft und zahllosen Mitbürger*innen aller Weltanschauungen und Religionen. Der israelische Rabbiner Yitzhak Goldstein hatte in Jerusalem das Schreiben übernommen – jede Rolle muss fehlerfrei handgeschrieben sein – und setzte im Esslinger Alten Rathaus die letzten Zeichen. Anschließend wurde die Tora bei einem feierlichen Festumzug in die Synagoge gebracht – um den Marktbrunnen und über den Hafenmarkt, durch die ehemalige Judengasse und schließlich in den Heppächer: eine Feier jüdischer Geschichte und Gegenwart in Esslingen.
Beteiligte
Künstlerische Leitung: Steven Walter & Joosten Ellée Recherche & Dramaturgie: Lena Fritschle Komposition: Shasta Ellenbogen, Rike Huy, Elischa Kaminer, Paulina Kiss, Marco Mlynek, Mary Ocher, Amir Shpilman Technische Umsetzung: Brendan Howell Podcast: MUJK // Thilo Braun, Maria Gnann und Marie König Leitung PODIUM Education: Wiebke Rademacher Leitung PODIUM Digital: Julian Stahl Tontechnische Betreuung: Simon Heinze Audio Programmierung: João Pais Redaktionelle Begleitung: Steffen Greiner Projektleitung: Pamina Rottok
Das Projekt wird im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ vom Innovationsfonds Kunst 2021 durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und von der Karl Schlecht Stiftung gefördert und entsteht in Partnerschaft und mit Unterstützung zahlreicher Institutionen und Einzelpersonen, darunter die IRGW Zweigstelle Esslingen / Elena Braginska, das Stadtarchiv Esslingen / Dr. Joachim J. Halbekann, der Verein DENK-ZEICHEN e.V. ESSLINGEN / Gerhard Voss, die Initiative Women* of Music (W*oM) / Hajnalka Péter, das Ensemble Mediterranea / Alon Wallach, das Detect Festival sowie Dr. Joachim Hahn und Oron Haim.