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Zapfenstreich für Angela Merkel: Eine alternative Playlist

Ein Text von Joosten Ellée

Rote Rosen und ein vergessener Farbfilm? Joosten Ellée, der Künstlerische Leiter von PODIUM Esslingen, hat ein paar Vorschläge für eine alternative Liedauswahl für die Verabschiedung der Bundeskanzlerin Angela Merkel nach 16 Jahren Amtszeit.

 

1. O Vis Eternitatis // Hildegard von Bingen 

Jahrhundertelang wurden Stimmen zum Schweigen gebracht. Wahrscheinlich oft genug auch solche, deren einmalige Perspektive unsere Welt schon längst zu einer besseren hätte machen können. Die Komponistin Hildegard von Bingen gehörte dazu. Auch nach 800 Jahren müssen wir immer noch für Geschlechtergerechtigkeit in der Musik kämpfen. – Dabei ist eines klar: An Angela Merkel, genau wie an Hildegard von Bingen, führt auch im patriarchalsten Geschichtsbuch kein Weg mehr vorbei. „O Vis Eternitatis“: Ein Lied für die Wege, die beide auf ihre Weise freilegten für nicht-männliche Personen.

2. Galvanize // The Chemical Brothers

Als Merkel 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, war ich gerade mal 12 Jahre alt und habe auf Schülerdisko-Abenden heimlich erste Schlucke Bier getrunken. In meinem Kinderzimmer hing ein Poster von Joschka Fischer, The Chemical Brothers waren in den deutschen Charts und bei mir begann – inmitten der pubertären Entwicklung – langsam das politische Bewusstsein für Dinge wie Verantwortung, Fürsorge und Kompromisse – alles komplett unter dem Schirm von Merkels Kanzlerinnenschaft. Noch jetzt fühle ich die Adrenalin-getriebene Stimmung, dass das Leben jetzt erst richtig anfängt, wenn ich Galvanize höre: „World, the time has come to galvanize!“

3. Meditation auf den Bach-Choral „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ // Sofia Gubaidulina

Die heute 90-jährige Sofia Gubaidulina lebte und arbeitete die längste Zeit ihres Lebens in einem Land, das es nicht mehr gibt: in der Sowjetunion. Für die Komponistin war Musik ein Weg, mit dem autoritären Regime umzugehen. In ihrer Meditation auf den Bach-Choral „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ verarbeitet sie nicht nur ihre persönliche und innige Beziehung zur Musik von Johann Sebastian Bach – einem von Merkel ebenfalls sehr geschätzten Komponisten – sondern auch unweigerlich den Konflikt zwischen ihrem Schaffen und der politischen Realität einer sozialistischen Gesellschaft.

4. The Molendinar // Claire M Singer

16 Jahre lang Bundeskanzlerin zu bleiben und nicht nur die Politik, sondern ein ganzes Land zu prägen – viel klügere Köpfe als ich haben schon viel besser analysiert, warum Merkel das geschafft hat. Sie hatte sowohl den notwendigen langen Atem als auch eine klare intrinsische Motivation, um eine größere Geschichte zu erzählen. Das verbindet sie mit Claire M Singers „The Molendinar“, einem klingenden Zeugnis, wie ein großer Bogen gelingen kann. Claire M Singer komponiert für die Orgel, die alte Königin der Instrumente, mit einer Kombination aus Respekt für ihre Herkunft und mit einem Feingefühl für notwendige Innovationen. – Vielleicht ist das ein Paradebeispiel für eine der wohl prägendsten Stärken von Merkel: ihre niemals endende Diplomatie.

5. Your Power // Billie Eilish

Als wohl mächtigste Frau der Welt wurde Merkel immer wieder von den mächtigsten Männern dieser Welt auf inakzeptable Art und Weise gedemütigt: Bushs unerwünschte Massage, Berlusconis Telefonat-Affront oder Trumps verweigerter Handschlag; das sind nur einige traurige Tiefpunkte. Merkel hat dennoch Haltung bewahrt und uns allen damit gezeigt, wie weit der Weg noch ist, den wir gehen müssen, um eine von Sexismus durchdrungene Gesellschaft grundlegend zu verändern… „How dare you? And how could you? Will you only feel bad when they find out? If you could take it all back, would you?“, singt Billie Eilish, 19 Jahre alt und eine der derzeit mächtigsten Frauen der Popwelt.

6. Early that Summer // Julia Wolfe

„Wir schaffen das“… Die vielzitierte Anzahl an Krisen, durch die Merkel manövrieren musste, führte uns immer wieder deutlich vor Augen, dass sie im Ernstfall doch stets auf Basis ihres eigenen Wertekanons entscheidet. Mich hat das beeindruckt. Julia Wolfes Musik steht für mich für eine ähnliche innere Dringlichkeit und Kraft. Über das Streichquartett „Early that Summer“ schreibt die Komponistin selbst:

„While living in Amsterdam for the year [in 1992] I began Early that Summer. At the time I was reading a book about US political history. The author would introduce small incidents with phrases like ‚Early that summer…‘ Incidents would snowball into major political events or crises. I realized that the music I was writing was exactly like this – that I was creating a state of anticipation and forward build.“

7. Wayward Free Radical Dreams (aus: Verspers for a New Dark Age) // Missy Mazzoli

Die Sicherheit, die Deutschland mit Merkel oftmals gespürt hat, war in vielerlei Hinsicht trügerisch. Wir stehen nicht erst seit 2021 am Beginn eines „New Dark Age“, sind jetzt aber an einem Punkt angelangt, an dem wir keine andere Wahl mehr haben, als mit radikalen Träumen unseren eigenen Weg zu finden. Und wer weiß, ob sich mit dem Ende der Kanzlerinnenschaft von Merkel nicht vielleicht doch etwas sehr grundlegend verändern wird. Missy Mazzoli schafft es, eine Musik zu komponieren, die aus der Vergangenheit neue Ideen extrahiert und erschafft damit – ohne alles über Bord zu schmeißen – einen radikalen Soundtrack für radikale Zeiten. – Das perfekte Stück für den heutigen Abschied und Neubeginn.

Foto: Armin Linnartz (Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported)