Zwei klassische, aber grundverschiedene Frauenfiguren stehen 2022 an Anfang und Ende des Konzertwochenendes in Bebenhausen. Vertont wird eine von einer Frau, eine von einem Mann. Überlegungen zu „Salome“ und „Penelope“.
Zwei Opern rahmen die Konzerttage in Bebenhausen in diesem Jahr. Das allein ist für PODIUM erstaunlich – zwar blickte die Produktionsplattform oft auf die Musiktheaterbühne, etwa mit „Herkules von Lubumbashi“ oder in früheren Jahren mit Stücken wie „Strawinsky:animated – Die Geschichte vom Soldaten“. Aber so prominent verhandelt wurde die dramatische Form selten. Nun, mit Einschränkungen: Sarah Kirkland Sniders „Penelope“ ist ein Song-Zyklus, also eigentlich die hochpopkulturelle Fortentwicklung des romantischen Liederkreises. Und Strauss‘ „Salome“ gibt es in einer besonderen Form zu hören, die ebenfalls PODIUM-Tradition hat: Der Pianist Mathias Halvorsen und der Geiger Mathieu Van Bellen spielen die gesamte Oper instrumental verdichtet als Duo. Wie zuvor schon die Puccini-Opern „Tosca“ und „La Bohème“, mit denen sie europaweit gastierten, wird das ganze Drama hier kondensiert, verdichtet. Nichts geht verloren außer dem Pomp. Der Pathos der Oper wird postmodern reflektiert.
Zwei Opern, aber auch zwei Frauenfiguren und zwei Herangehensweisen, Liebe zu erzählen. Toxische und kosmische Liebe steht im Zentrum des Konzertwochenendes, und Richard Strauss‘ „Salome“ bietet von ersterem natürlich reichlich. Richard Strauss ist heute vor allem für sein kompliziertes, in jedem Fall aber nicht gerade von offener Opposition geprägtes Verhältnis zu den Nationalsozialist*innen berüchtigt, als er, weltbekannter Komponist und Dirigent, von 1933 bis 1935 Präsident der Reichmusikkammer war, dabei ist das Werk des Spätromantikers durchaus wegweisend – gerade die Oper „Salome“ von 1905 ist geprägt durch ein offensives Spiel mit Disharmonien, Kakophonien, Dissonanzen, ein Flirt der ausklingenden Ära Wagners mit der kommenden der Neuen Musik. Eine femme fatale ist die biblische Salomé in dieser Oper, beinahe ihr Grundmodell: Sie verliebt sich in den eingesperrten Propheten Jochanaan, weithin bekannt als Johannes der Täufer, und begehrt den wütenden Weissager. Aber Jochanaan weist sie, die sich ihm durch Bestechung der Wachen nähern konnte, zurück. Schon lange fordern die Juden von Herodes seine Hinrichtung, doch Herodes sträubt sich. Als er Salomé bittet, für ihn einen Tanz aufzuführen und sie ihm dafür ein Versprechen abnimmt, er möge ihr einen Wunsch erfüllen, ist klar, dass ihr Begehren nur einem gelten kann. Jochanaan verliert seinen Kopf, Salomé küsst ihn. Ist in der biblischen Überlieferung ihr Wunsch Teil einer Intrige der Mutter Herodes‘, die Johannes tot sehen will, ist es in der Oper ihr eigenes Begehren. Am Ende ist auch sie tot, Herodes lässt den Vorhang fallen: „Man töte dieses Weib.“
Klarer Fall von male gaze, natürlich, wenn nicht die Geschichte hinter der Oper komplexer wäre. Also: Männer, die Frauen schreiben, bewerten, ihre eigenen Fantasien, Klischees und Ängste in die Köpfe der weiblichen Figuren legen. Die femme fatale, die mutwillig destruktive, tödliche Frau, Signet des fin de siècle, aber eben auch Zeichen dessen, wer schreibt. Nur, dass in diesem Fall der Autor selbst gesellschaftlich effeminiert wird, als verweiblicht gezeichnet. Oscar Wilde verfasst das Drama, auf dem die Oper basiert, ein Schriftsteller der décadence, vor allem aber auch einer, der für seine sexuellen Aktivitäten im Gefängnis saß – eine Ikone der Schwulenbewegung (die das oft pubertäre Alter seiner Gespielen dabei ignorierte). Kein halbes Jahrzehnt, nachdem 1891 die Zensor*innen des Vereinten Königreichs seine „Salome“ ablehnten, wurde er zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, die er nur körperlich derart ruiniert überstand, dass er 1900 mit gerade einmal 46 Jahren stirbt.
Trotz seiner sexuellen und identitären Devianz: Wilde ist natürlich ein Mann, der über eine Frau spricht. Wenn in der Oper allerdings Salomé spricht, spricht sie durch die Worte einer Frau. Die Übersetzung des Stücks, die Strauss als Libretto diente, kommt von der Dichterin Hedwig Lachmann, die selbst eine der bemerkenswertesten weiblichen Protagonistinnen der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende ist: 1865 als Tochter eines jüdischen Kantors in der pommerschen Provinz geboren, zog es sie bald nach England, Budapest, Dresden und Berlin. Hier veröffentlichte sie ihre Übersetzungen von Wilde, Poe und Tagore neben eigenen Werken und hielt Kontakt in den anarchischen Friedrichshagener Kreis, der versuchte, das Bohème-Dasein der Großstadt mit lebensreformerischen Idealen der Naturverbundenheit zu vereinen. Ihr Ehemann wird 1903 Gustav Landauer, Schriftsteller, Aktivist und Theoretiker des Anarchokommunismus und Pazifismus. Als er 1919 als Rädelsführer der Münchner Räterepublik von prä-faschistischen Freikorps getötet wird, ist Lachmann bereits verstorben, eine Lungenentzündung im Kriegs- und Hungerwinter 1917/1918 konnte ihr Körper nicht mehr besiegen. Was dachte Lachmann von Wildes femme fatale? Sie selbst bekam ein Kind von einem verheirateten Mann, der sich später für sie scheiden ließ, lebte selbst ein brisantes wie politisch mutiges Leben. Schrieb sie Salomé im Übersetzen bloß Sätze in den Mund, die ein bisexueller Mann sich ausdachte, oder steckt doch das Wesen einer jenseits der Konventionen agierenden, anarchischen Frau in ihnen? Und kann es beides sein – so wie Strauss zugleich Spätromantiker und Avantgardist, Nazi-Kollaborateur und Schwiegervater einer Jüdin war?
Sarah Kirkland Sniders „Penelope“ ist auf der Bühne die vielschichtigere Figur, sie beendet das Wochenende, zu dem außer Strauss kein Mann seine musikalische Interpretation beisteuert. Die kennt man schließlich nach ein paar tausend Jahren cis-hetero-männlichem-weißem Kanon zu genüge. Auch das Libretto des Song-Zyklus von 2009 stammt von einer Frau, Ellen McLaughlin, die sich umgekehrt oft den klassischen griechischen Stoffen widmet, also durchaus: Männer, die kämpfen. Allerdings legt sie den Fokus auch immer auf Frauenfiguren: „Ajax in Iraq“ etwa lässt den Helden Ajax im trojanischen Krieg und die G.I. A.J. in Bushs Irakkrieg parallel laufen. Penelope gehört sicher zu den bekanntesten Figuren der griechischen Mythologie, aber sie ist eben primär Ehefrau. Zumal: eine wartende, treue Ehefrau, sicher keine Rebellin. Odysseus heißt ihr Mann, bekanntermaßen ist er nach zehn Jahren trojanischem Krieg für weitere zehn verschollen – während er sich zurückkämpft und dabei allerlei Wesenheiten bescheißt, bescheißt Penelope die geifernden Männer, die kaum erwarten können, sie, die nun vermeintlich verwitwete Prinzessin, zu ehelichen. Sie heiratet, sagt sie, wenn das Totentuch für ihren Schwiegervater fertig gewoben hat – allein, in den Nächten knüpft sie die Fäden stets auf.
Oft wurde Penelope feministisch interpretiert und ins Zentrum der Geschichte gestellt, am prominentesten sicher in der “Penelopiade” von Margaret Atwood, der Autorin von „The Handmaid‘s Tale“. In der Version von McLaughlin und Snider ist sie auch eine Ehefrau, ihre Existenz verdankt sie, vielleicht noch einmal mehr als in der antiken Tradition, einem Ehemann. Der hier allerdings nicht als Actionheld und Rächer zurückkehrt, sondern als Geschädigter, aus einem Krieg der Moderne kehrt er zurück, traumatisiert und mit einem Hirnschaden. Penelope an seiner Seite ist Begleiterin und Therapeutin. Sie beginnt, ihrem Mann die „Odyssee“ vorzulesen und findet Wege in die verschlossenen Bilder im Kopf von Krieg und Trauer. Das kehrt Rollen um, macht den antiken Helden zum passiven Objekt, Penelope als Subjekt der Handlung jedoch auch zu einer klassischen weiblichen Figur, fokussiert auf care work am soldatisch-männlichen Ich. Oder ist das zu streng interpretiert? Verkennt es die Leistung des Duos in der Neuinterpretation der Wartenden? Sicher nicht zumindest die kompositorische Brillanz Sniders, die hier wieder offenkundig wird, die sich vor allem im Zusammenspiel der Ästhetiken von Klassik und alternativer Pop- und Rockwelten eine eigene Nische schuf. „Penelope“ umfasst Streicher-Elegien ebenso wie schroffen Post-Rock und erkundet, welche Möglichkeiten dem Genre des Liedes nach 100 Jahren Pop-Song im Rahmen klassischer Musik heute offenstehen.
Das schöne an Liebe als Thema ist die fehlende Eindeutigkeit. Experimentelle polyamore Strukturen entpuppen sich oft genug als Hort männlicher Machtausübung, traditionelle heterosexuelle Zweierbeziehungen besitzen bisweilen doch revolutionäres Potenzial der Emanzipation. Wer spricht, wer wird gesprochen, wessen Wort zeichnet wen? Und was bedeutet es, wenn Begehren ins Spiel kommt, und was, komplexer vielleicht, wenn diese kosmische Liebe aufblüht? Die eben nicht nur einen großen Himmel voller Geigen bedeutet, wie ihn PODIUM allein aus logistischen Gründen in Bebenhausen nicht unbedingt zeichnen wird, sondern auch bedeutet, da zu sein und da zu bleiben – aber aus ganz anderen Gründen und von ganz anderem Wesen vielleicht, als das bürgerliche Ideal der ewigen Treue es interpretiert? Und was ist mit Gott und Spiritualität? Das fragt die Kulisse eines Klosters doch automatisch. Was mit negativer Magie? Die Komponistin Tonia Ko beschwört sie. „toxisch. kosmisch. liebe.“, heißt das Konzertwochenende in Bebenhausen 2022, es hätte auch mit Fragezeichen geschrieben werden können.