„Nirgends wird am Überkommenen so zäh festgehalten wie in der Musikwissenschaft.“ Diesen Satz formulierte der Komponist und Musikwissenschaftler Clytus Gottwald schon im Jahr 1971 – er ist heute, über fünfzig Jahre später, noch genau so wahr. Man kann ihn sogar ohne große Widerstände ausweiten: Nirgends wird am Überkommenen so zäh festgehalten wie in der klassischen Musik – und das meint neben der Musikwissenschaft auch den Musikjournalismus samt Musikkritik, die Musiktheorie und den Kanon, die Besetzungspraxis in Orchestern und die Programmgestaltung der Konzert- und Opernhäuser, den CD-Markt und die Vermarktung von Künstler*innen.
Zugespitzt zeigt sich das besonders an einer Tatsache: Die Musik, die interpretiert wird, stammt von weißen Männern. Die Künstler*innen, die große Plattformen bekommen, deren Musik besprochen und gelobt wird, sind mit großer Mehrheit weiße Männer. Diejenigen, die die Texte über diese weißen Männer schreiben, sind überwiegend weiße Männer. Die, denen zugetraut wird, Orchester und ganze Häuser und Festivals zu leiten, Personal- und künstlerische Entscheidungen zu treffen – es sind weiße Männer.
Die Tatsache ist so offensichtlich und so selbstverständlich, dass sie jahrhundertelang niemand hinterfragt hat – vielmehr wird und wurde immer wieder betont, dass das, was wir machen und besprechen, nämlich Kunst, nichts mit Identität zu tun habe. Kunst sei neutral. Vor diesem Hintergrund sei es eben so: Das Genie ist weiß und männlich, so wie Wasser nass ist – nur beißt sich die Katze hier argumentativ in den Schwanz.
Denn was die klassische Musik überhaupt erst an diesen Punkt gebracht hat, an dem sie heute ist, ist eine theoretisch längst überkommene, aber deshalb nicht weniger wirkmächtige patriarchale und rassistische Norm, innerhalb derer es natürlich nichts am Status Quo zu diskutieren gibt. Der Musikwissenschaftler Phil Ewell nennt sie den „white racial frame“, den weißen, rassistischen Rahmen der Musik. Innerhalb dieses Rahmens haben nicht-weiße, nicht-männliche Theoretiker*innen, Komponist*innen oder Dirigent*innen kaum eine Chance auf eine große, sie ernst nehmende Öffentlichkeit.
Die Folge? Schaut man – den Aspekt der race ausklammernd – mal allein auf das Geschlecht, sprechen die Zahlen für sich: Lediglich 1,9 Prozent der Stücke, die laut einer Studie des Archivs „Frau und Musik“ die 129 in Deutschland öffentlich finanzierten Orchester in der Saison 2019/20 auf die Programme ihrer Abonnement-Konzerte setzten, stammten von Komponistinnen. Eine Untersuchung des Online-Musikarchivs bachtrack.com zeigte, dass sich 2017 unter den Top 100 der nicht-zeitgenössischen Komponist*innen in knapp 18.000 Konzerten nicht eine einzige Frau befand – während in fast jedem zweiten dieser Konzerte Mozart, Beethoven oder Bach gespielt wurde. Ende 2021 gab es gerade einmal sechs Dirigentinnen, die einem der 129 deutschen Klangkörper vorstanden.
Dass es keine Komponistinnen gegeben habe, weil Frauen generell weniger Zugang zu Bildungseinrichtungen oder Förderung gehabt hätten, ist schlicht falsch. Ja, Frauen wurden auch vor 300 Jahren nicht gerade darin unterstützt, Kunst zu schaffen – vielmehr missbrauchten die Roberts, Johanns und Ludwigs ihrer Zeit sie als Musen, degradierten sie zur Inspiration ihres männlichen Künstlergeistes. Sie veröffentlichten teilweise Werke, die Frauen komponiert hatten, unter ihrem Namen oder verschwiegen den mitunter beträchtlichen Anteil ihres Mitwirkens an den eigenen Kompositionen.
Doch Frauen haben schon immer komponiert – im Geheimen oder Halböffentlichen, oft ohne Förderer oder Mäzene, ohne die Aussicht, dass ihre Werke je irgendwo aufgeführt würden, und natürlich ohne die Möglichkeit, jemals davon zu leben. Die Bedingungen, unter denen beispielsweise Antonia Bembo oder Hélène de Montgeroult im 18. und 19. Jahrhundert lebten und komponierten (und sie komponierten eine Menge), waren massiv schwerer als die ihrer männlichen Zeitgenossen.
In den weiblichen Biografien finden sich dabei nicht weniger aberwitzige Erzählungen und ikonische Bilder, Situationen, Entscheidungen und Schicksalsschläge, nach denen sich die geniedurstigen Historiker*innen im Falle der männlichen Pendants nur so verzehren: Ethel Smyth beispielsweise, die als Jugendliche in den Hungerstreik tritt, um ihren Vater dazu zu bringen, sie in Leipzig Komposition studieren zu lassen, pflegte Kontakte zu Clara Schumann, Anton Rubinstein, Edvard Grieg, Peter Tschaikowsky und Johannes Brahms. Mit „The March of Women“ komponierte sie 1910 die Hymne und das Kampflied der damaligen Frauenbewegung. Bei einem Protest wurde sie inhaftiert, ließ es sich aber nicht nehmen, aus dem oberen Fenster des Blocks heraus mit einer Zahnbürste ihre Mitkämpferinnen im Gefängnishof beim Singen des „March“ zu dirigieren.
Vermutlich ist es nicht weit hergeholt zu vermuten: Wäre sie ein weißer Mann, wäre sie schon allein aufgrund dieser Biografie in Kombination mit der Fülle und Qualität ihres Schaffens eine Legende der Musikgeschichte. Das einzige, was ihr den Erfolg verwehrte, was als Grund vorgebracht werden kann, warum bis heute keine ihrer sechs Opern und keines ihrer großen Orchesterwerke im Kanon vertreten ist, ist offensichtlich: Sie ist eine Frau.
Ethel Smyth und Margaret Bonds, Florence Price und Henriette Bosmans, Sophie Menter, Caroline Boissier-Butini, Rebecca Clarke, Emilie Mayer, Louise Farrenc, Margarethe Danzi, Emilie Zumsteeg, Ruth Gipps, Caterina Assandra, Francesca Caccini, und ja, auch Lili Boulanger, Clara Schumann, Fanny Hensel und Annette von Droste-Hülshoff, sie alle haben komponiert, große und kleine Werke geschrieben, Sinfonien, Opern, Konzerte und Lieder, musikalisch revolutionäre und qualitativ herausragende. Sie schrieben Musik, die der Zuhörerin den Mund offen stehen lässt, und ja, wie ihre männlichen Kollegen auch solche, die nur ganz nett ist, die als Fingerübungen in Instrumentalschulen eingehen könnte. Sie alle haben ein Werk hinterlassen, das dem von männlichen Komponisten gleicht, das ihm in nichts, und zwar wirklich nichts, nachsteht.
Nun ist es an der Musikwelt des 21. Jahrhunderts das anzuerkennen. Die eigene Voreingenommenheit zu sehen und zu reflektieren – und anders als die misogynen Vorgänger*innen der vergangenen Jahrhunderte diese Frauen und ihr Werk ernst zu nehmen. Es ist an der Zeit, das Überkommene zurück zu lassen.