PODIUM ist längst mehr als ein Festival in Esslingen. Dennoch: Die Tage im Frühling gehörten nun schon zum 14. Mal zu den Highlights im Jahresprogramm. Vom 28. April bis zum 7. Mai 2022 gab es 16 Konzerte – und viel mehr noch in kleineren Formaten, vom Salon bis PODIUM.Education. Die Ausgabe 2022 ist die erste unter neuer künstlerischer Leitung – Joosten Ellée gab drei Schwerpunkte aus, die das Programm der nächsten Jahre prägen werden: Geschlechtergerechtigkeit und Diversität, politische Verantwortung und die Partizipation der Stadtgesellschaft. Musikalisch erwartete die Zuschauer*innen immer wieder sorgfältig kuratiertes Überschreiten von Schwellen: Alte Musik trifft auf Neue, emotionale Solo-Stücke auf die Energie eines großen Orchesters. Mit einer Quote von 80 Prozent Komponistinnen hat sich das PODIUM Festival Esslingen in diesem Jahr eine Stellung in der Klassikszene erarbeitet, die bundesweit einmalig ist.
Zur Eröffnung spielte allerdings ein Mann Musik eines Mannes. Was ja nichts Schlechtes ist – schon gar nicht, wenn die ersten Töne des Festivals von einem der besten Gambisten der jüngeren Generation stammen. Der Klang von Liam Byrnes berückendem „Praeludium“ von Carl Friedrich Abel wurde beim Abend „EWIGKEIT!“ in der Stadtkirche St. Dionys bald von einem immer weiter anwachsenden Orchester aufgefangen – mit dem Lüneburger ensemble reflektor gab es in diesem Jahr erstmals ein Gastensemble, das das Festival über mehrere Konzerte begleitete. Insbesondere ihre Version von inti figgis-vizuetas „talamh“, bei dem sich, unter dem Dirigat von Friederike Scheunchen, die Musiker*innen um das Publikum herum im Kirchenraum platzierten, war trotz der Abstraktheit der Klangsprache unausweichbar nahegehend. Reflektor erhielt dabei Verstärkung durch die Streicher*innen des Jugendsinfonieorchesters Filderstadt – Laienmusiker*innen und Profis auf Augenhöhe, ein Leitmotiv von PODIUM. Ein gelungenes Experiment an einem musikalisch überwältigenden Auftaktabend!
Auch beim Konzert „FUEL“ stand ensemble reflektor im Zentrum. Im wahrsten Sinne des Wortes, war die Bühne doch zentral angelegt, was den im engen Kreis spielenden Musiker*innen noch mehr die Anmutung einer maschinellen Struktur gab, als es ihnen Julia Wolfes Titelstück ohnehin gegeben hat. „Fuel“ versucht, den Klang der Globalisierung musikalisch zu fassen und zu interpretieren: ein Großhafen, das Verschiffen von Öl, gespielt in der Kulisse der Werkstatt des Autohauses Jesinger. In dieser eindrücklichen Interpretation, wiederum geleitet von Friederike Scheunchen, wurde deutlich, was es bedeutet, wenn Musik sich der Verantwortung nicht entzieht, zu helfen, abstrakten Strukturen sinnliche Form zu geben – eine politische Verantwortung in Zeiten multipler vernetzter Krisen.
Abstrakt mag auch das Konzept von Tian Gaos Stück „River / 江 / Fluss“ erscheinen: Die aus Wuhan, in China bekannt als Stadt der Flüsse, stammende Tänzerin und Choreografin, die auch im Ensemble von Sasha Waltz mitwirkt, setzt sich mit der Bedeutung von Flüssen als Heimat und Identität auseinander. Mehr und mehr wird ihr Körper selbst zu Wasser, der Klang des Regenmachers prägt ihren vielseitigen, stets poetischen Tanz in stimmungsvoll minimalistischer Bühnengestaltung. Musikalisch sorgte der Abend mit einer als rote Linie gesetzten deutschen Erstaufführung von Caroline Shaws „Narrow Sea“ für einen Höhepunkt des Festivals. Mit vier Schlagwerker*innen (Hannes Brugger, Lucas Gérin, Philipp Lamprecht, Vanessa Porter), Nina Gurol am Klavier und Isabel Pfefferkorn als Sängerin gelang eine grandiose Interpretation.
Die 1883 verstorbene Emilie Mayer war eine der Heldinnen des Festivals – buchstäblich! Denn das Education-Programm gab in diesem Jahr einen ersten Einblick in die entstehende Serie „HELDINNEN“, die PODIUM in den nächsten Monaten weiter wachsen lassen wird und die empowernde Biographien von Komponistinnen der letzten Jahrhunderte erzählt. Statt klassischer Konzerte für Kinder gibt es dann kleine Musiktheaterstücke. In diesem Fall trat die Schauspielerin Nele Sommer als Komponistin Mayer auf und vermittelte in vergnüglichem, dennoch bitterem Dialog, was es bedeutete, im 19. Jahrhundert als alleinstehende Frau eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Mit den Vorurteilen des patriarchalen Musikbetriebs ist es nämlich so eine Sache. Aber dann dauern ja auch noch die Kutschenfahrten auf den holprigen Straßen immer so ewig! Das Elaia-Quartett spielte dazu Mayers Streichquartett in g-Moll.
Musiktheater, aber ganz anders: Darauf gab der Postkoloniale Salon einen Ausblick. Das Werkstattkonzert in der Clubatmosphäre des neu gestalteten KOMMA gab Einblick in die Entstehungsprozesse des postdokumentarischen Stücks „The Ghosts Are Returning“, das die kongolesisch-europäische Group50:50 gestaltet und das sich mit Fragen der Restitution kolonialer Beute und anderer Objekte beschäftigt – oder wie hier: Mit Skeletten, die in den 1950er Jahren aus dem Land ausgeführt wurden und heute in Genf lagern. Dramaturgin Eva-Maria Bertschy berichtete von der Reise zu den Mbuti, in das Dorf, in dem die Nachkommen der Verstorbenen leben. Ruth Kemna, Kojack Kossakamvwe und Elia Rediger übernahmen an diesem Abend die musikalische Gestaltung und spielten Stücke, die in das Theaterstück einfließen werden, begleitet von digital zugespielten Musiker*innen aus dem Kongo. Zwischen Avant-Pop, Lingala und Totenklage entstand eine brüchige Balance, die sicher zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk führen wird – Uraufführung der PODIUM-Produktion: am 23. September in Düsseldorf und am 25. im Theaterhaus Stuttgart.
Und noch viel mehr ist passiert! In „Lied der Nacht“ präsentierte sich ein kleines PODIUM-Ensemble gemeinsam mit der Kantorei der Stadtkirche unter Leitung von Kirchenmusikdirektor Uwe Schüssler. Die elegische Stimmung der berühmten Gartenlieder von Fanny Hensel und das bewegende „Peace I Leave With You“ von Amy Beach wurde dabei von Einsprengseln aus der Avantgarde der Gegenwart verdunkelt – die Nacht ist schließlich auch ein Sound des plötzlichen Aufreißens der Stille, wie im Stück „Singing in the Dead of Night“ von Julia Wolfe, das das Publikum mit seinem gewalttätigen Aufbrausen und Brüchen in Atem hielt. Hier wie auch beim Abend „Die Hand, das Werk“ brillierte Cellist Jakob Nierenz – im Eisenlager etwa mit einem Solostück für Cello und Verzerrer, Michael Gordons „Industry“, das den Abend, der mit einer Parallelmontage von Bachs „Kunst der Fuge“ und Louis Andriessens „Workers Union“ begann, turbulent abschloss.
Das letzte Konzert gehörte in der Industriekulisse der Druckerei Bechtle einer Supergroup aus vertrauten Gesichtern – manche von ihnen seit Jahren Gäste von PODIUM, manche sind erst mit Joosten Ellée erstmals nach Esslingen gekommen. Über die letzten zehn Konzerttage dürften einige von ihnen dem Publikum bereits aufgefallen sein. Das PODIUM-Ensemble des Abends spielte Stücke von Julia Wolfe, Sarah Kirkland Snider und Gabriella Smith. Im Kern des Finales stand allerdings ein Solo-Set von Nina Kazourian. Die spielt seit Jahren in verschiedenen PODIUM-Produktionen und war regelmäßig als Teil des STEGREIF.orchesters zu Gast – nun hat sie ihr Solo-Album „Under Rivers“ veröffentlicht. Kammermusikalische Folk-Chansons über Liebe und Abschiede, die ein Konzert, dessen Anspruch es ist, ein Fest zu sein, das mühelos über die Schwelle zwischen Klassik und Pop tritt, mit feierlichen Klängen krönen. Ein Abschied auch für dieses Jahr – das PODIUM Festival kehrt zurück am 20. April 2023!
Fotograf*innen: Sophia Hegewald (Fotos 1-6 & 12-13) und Christoph Püschner / Zeitenspiegel (Fotos 7-11 & 14-19)