Wer widerspräche der Aussage, dass Musik und Politik zahlreiche Schnittmengen und Berührungspunkte aufzuweisen haben? Man denke an das politische Lied eines Bertholt Brecht in Kollaboration mit Kurt Weill, an das Genre Nationalhymne, an die Schriften Adornos, an Schoenbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ oder an Beethovens verunglückte Widmung seiner Eroica an Napoleon. Ob aber eine musikalische Form oder Gattung, wie die Sinfonie, zu einer solchen Schnittmenge gerechnet werden kann, ist weder musikwissenschaftlicher Konsens noch in der Regel eine Erwägung des klassischen Musikpublikums. Im Gegenteil ist die Zuversicht verbreitet, im klassischen Konzertsaal von Politik verschont zu sein. Die Sinfonie, die nach Eduard Hanslick nichts als „tönend bewegte Form“ darstelle, scheint dort ganz und gar als Absolute Musik der Welt enthoben. Entsprechend gilt bei der Musikanalyse nach wie vor die werkimmanente als Königsdisziplin.
Hier setzt PODIUM Esslingen kluge, beeindruckende und überzeugende Gegenakzente. An vier Abenden wurde im Rahmen vom „BRUCKNER.lab.“ die Sinfonie auf eine mögliche politische DNA überprüft. Dass nicht nur Joseph Haydn, sondern wirklich viele, meist heute vergessene kreative Köpfe an ihrer Entstehung beteiligt waren, sollte sich in der Franziskanerkirche - pars pro toto - durch die kammermusikalische Programmfolge von 9 Stücken aus vier Jahrhunderten zeigen und somit das gängige Narrativ vom Einzelgenie, das die neue Gattung ganz allein gebiert, entlarven. Dass die Sinfonie in musikalischer wie auch soziokultureller Hinsicht als dezidierter Ausdruck des sich im 19. Jahrhundert ermächtigenden Bürgertums gesehen werden kann, wurde, örtlich kongenial im Bürgersaal des Rathauses, mit Musik von Gustav Mahler und Ethel Smyth und einem musikwissenschaftlichen Panel erörtert. „Sinfonie auf dem Gipfel“ erinnerte an die gesellschaftliche Sprengkraft und Relevanz dieser Gattung für das Selbstverständnis der damals neuen führenden Gesellschaftsschicht. Wie aber könnte heute eine neue Sinfonie klingen und wie könnte sie entstehen, wie könnte sich unsere gegenwärtige Gesellschaft, v.a. die junge Generation, in der Musik widerspiegeln und ermächtigen? Diesen Fragen ging eine Einführung zum großen, mit Spannung erwarteten letzten Esslinger PODIUM-Konzertabend 2024 nach. Das Abschlusskonzert im Autohaus beantwortete diese mit der Uraufführung einer „Sinfonie der Gegenwart“ mit größter Diversität und Vielfalt des Klanglichen, Entgrenzung der musikalischen Genres und der musikausübenden Funktionen und einer Kugelgestalt der zeitlichen und geografischen Ebenen der musikalischen Semantik und Stile: neben geräuschhafter Rhythmik schwebende Glissandi und Cluster, aber auch bewährte, altbekannte Motive; neben allen Klangfarben einer sinfonischen Besetzung auch kollektives Unisonosingen des Orchesters und Sologesang der Dirigentin Cymin Samawatie und Sprechen aus dem Äther; neben dystopisch tiefdunklen Akkorden kaum noch vernehmbares Summen und Raunen, arkadische Idylle und der große Atem der Geschichte. Drei Komponistinnen und ein Komponist haben das auch auf Bruckners vierte Sinfonie anspielende, großangelegte und großartig wirkende Orchesterwerk in einem langen Prozess des Austauschs, der gegenseitigen Inspiration im Team entwickelt, um den Beweis anzutreten, dass kollektive, kooperative Kreativität auf hohem Niveau nicht nur sinnstiftend, sondern auch höchst erfolgreich und zukunftsträchtig sein kann. Vor der Pause stand die 4. Sinfonie des Jubilars - und gewissermaßen Spiritus Rektor des diesjährigen PODIUM-Festival-Schwerpunkts – Anton Bruckner auf dem Programm. In einem mutmaßlichen Welturaufführungsversuch spielte ensemble reflektor die im fortgeschrittenen durchbrochenen Satz angelegte Partitur ohne Dirigat. Dieses Experiment speist sich aus der Erkenntnis einer musikgeschichtlichen Paradoxie. Je gleichberechtigter die Orchesterstimmen sich entwickelten, je mehr eine Komposition eine immer größer werdende gleichwertige, quasi demokratische Stimmenvielfalt vorsieht, je mehr verlangt die Aufführung einen ordnenden Dirigentenstab. Damit bricht die Stunde der berühmt-berüchtigten, von Orchestern gefürchteten, von Musikliebhabern oft vergötterten Tyrannen am Dirigentenpult an.
Die Personalunion von künstlerischem Leiter von PODIUM Esslingen Joosten Ellée und gleichzeitigem Konzertmeister von ensemble reflektor machte das einmalige Experiment vielleicht erst möglich. Er hat den Musiker*innen und den Zuhörer*innen damit ein unvergessliches Erlebnis bereitet. Ob dieses die Notwendigkeit eines Dirigats bewies oder für immer verwarf, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wurde auf sicht- und hörbar andere Art und Weise musiziert. Die Bläser*innen spielten im Stehen, gemeinsames Wogen und Wallen ersetzte die taktschlagende Dirigierhand. Die musikalische Energie auf der Konzertbühne war bis in die hinteren Publikumsreihen spürbar und gewaltig. Die Crescendi gerieten zügelloser und entwickelten sich bis hin zu explosivsten Forte-Ballungen. Vielleicht fehlte den nahezu ständig präsenten Hörnern manchmal der mitgeatmete Einsatz? Auf jeden Fall gehen die ja immer solistisch agierenden Bläser oder auch die Pauken nie fehl. Große Tuttieinsätze, Wechsel der Tempi oder Abschläge übernimmt souverän Joosten Ellée als primus inter pares mit gekonnten, immer verständlichen Bewegungen und seinem Geigenbogen. Eine Stunde schönster, differenziertester Musik, vier sinfonische Satzcharaktere, der umfassende Mikrokosmos einer spätromantischen Sinfonie kann bei entsprechender Selbstermächtigung in kollektiver Eigenlenkung gelingen. Nichts mehr, aber vor allem nichts weniger haben die rund 50 jungen Musiker*innen als musikalischen und gleichzeitig kulturpolitischen Beweis vor einem hingerissenen Publikum geliefert. Neben diesem schwergewichtigen Laboratorium des Sinfonischen waren in den 11 Tagen des Festivals weitere politisch äußerst relevante Formate erlebbar: „ATONAL FÜR DEUTSCHLAND - Laute Musik gegen Rechtsextremismus“ z.B., mehrere partizipative Konzerte, zwei Konzerte zur Digitalisierung und KI oder die Klanginstallation „BODIES OF WATER“ im Maille Park, die zusammen mit einem eindrücklichen halbszenischen Konzert in der WLB das durch die Klimakrise immer stärker bedrohte Recht auf Wasser für alle Menschen einforderte.