Was Menschen, die schon lange zum PODIUM Festival kommen, sicher gleich merken: Es gibt ein neues Motto, es heißt „Laut die Zukunft träumen“. Was bedeutet das für euch, wie wird sich das mit Leben füllen?
Joosten Ellée: Zu der Zeit, als PODIUM gegründet wurde, hat es der Konzertbetrieb gebraucht, dass die Musik entfesselt wird. Das bisherige Motto „Musik wie sie will“ hat PODIUM daher viele Jahre sehr gut begleitet. Und natürlich bedarf es diese Entfesselung noch immer. Aber wir sind gesamtgesellschaftlich jetzt in einer Zeit, in der es eine deutlichere Richtung braucht. Wir wollen mit unseren Konzerten Geschichten erzählen, so dass sie Utopie wie Dystopie zeichnen und etwas in die Gesellschaft zurückspielen. „Laut die Zukunft träumen“ beinhaltet für mich das Laut-Drehen der Musik, den Inhalt und auch den Traum, der in der Musik steckt, hervorzuholen und auszusprechen. Und gleichzeitig bedeutet es für mich ein Versprechen: Wir wollen der jungen Generation eine Stimme zu geben, weil wir ihre Ideen ernst nehmen. Gerade war es noch ein Traum, jetzt trauen wir uns, es auszusprechen. Wir träumen nicht mehr nur vor uns hin.
Selma Brauns: Ich mag an unserem neuen Slogan die Balance zwischen dem Zarten und Kontemplativen einerseits und dem Lauten und Mutigen andererseits. Und für mich steckt im Träumen die unglaubliche poetische Kraft von Musik, ihre reichen assoziativen und emotionalen Facetten und die Kraft der Fantasie.
Wie arbeitest du als Kulturschaffende mit dieser Dimension?
Selma Brauns: Wir können mit Musik Menschen ganz unmittelbar erreichen, emotional und intuitiv. Damit sind auch komplexe Inhalte und Gefühle sehr eindrücklich erfahrbar. Das hilft uns, Menschen mit Musik für gesellschaftliche Themen zu sensibilisieren und ebenso Menschen mit einem starken politischen Interesse für unsere Musik zu begeistern. Deshalb ist für uns der Kontext, in dem ein Musikstück gespielt wird, sehr wichtig. Diesen Kontext können wir gestalten. Und an dieser Gestaltung mitzuwirken, ist für mich immer wieder wahnsinnig spannend.
Die Kuration des Festival steht in diesem Jahr, aber auch nachhaltig in den nächsten Jahren eurer Arbeit, unter drei Schwerpunkten: Geschlechtergerechtigkeit und Diversität, politische Verantwortung und Partizipation.
Joosten Ellée: Das sind die Themen, die gerade auf der Agenda der Kulturlandschaft stehen müssen. Da gibt es keine andere Wahl. Was Diversität angeht, ist durch etliche Studien in den letzten Jahren klar geworden, dass zwischen dem wunderbaren musikalischen Material, das zur Verfügung steht, und dem, was tatsächlich auf der Bühne gespielt wird, eine große Diskrepanz herrscht. Hier muss sich etwas ändern. Politische Verantwortung ist etwas, was wir in unserer Generation und in denen unter uns spüren: Immer mehr von dem, was wir im alltäglichen Leben machen, bekommt eine dringlichere politische Position. Das ist umgekehrt ein Weg für jüngere Menschen neu zu erkennen, welche politische Kraft Musik entfalten kann, wenn man sich traut, sie für etwas einzusetzen.
Also: Musik als ein Werkzeug?
Joosten Ellée: Wir erhalten, wie viele Kulturinstitutionen, öffentliche Gelder. Öffentliche Gelder ermöglichen uns, Kunst zu machen. Damit einher geht auch die Verantwortung, der Gesellschaft vor Ort etwas zurückzugeben, was darüber hinausgeht, Menschen Musik vorzuspielen. Dazu gehört für mich, mit musizierenden Einwohner*innen von Esslingen eine Bühne zu teilen. Bei uns begegnen sich dabei die sonst so streng getrennten Bereiche von „professioneller Musik“ und sogenannter „Amateurmusik“ auf Augenhöhe. Ich denke immer wieder daran, dass Musik letztendlich ja doch daher kommt, dass man sich Lieder vorgesungen hat und sich damit gegenseitig berühren wollte. Als professionelle Musiker*innen vergessen wir das manchmal und müssen wieder von Amateur*innen lernen, dass Musik im Kern etwas Verbindendes ist. Deshalb stoßen wir einen Prozess an, um die gefühlten Mauern zwischen Publikum und Ausführenden nachhaltig einzureißen.
Selma Brauns: Wir wollen PODIUM öffnen und mit allen teilen. Dafür veranstalten wir in diesem Jahr zum Beispiel zum ersten Mal das Format der Salons mit kostenlosen Minikonzerten für alle. Sie finden am Wochenende jeweils am Nachmittag statt und sind damit auch für Familien einfach zugänglich. Wir wollen so Orte des Austauschs und der Begegnung schaffen. Ich persönlich finde es besonders schön, dass dieses Format auch eine politische Dimension hat. Es knüpft an die historischen Salons an und bringt uns in Erinnerung, wie lange und hart Frauen kämpfen mussten, um ihren Platz auf der Bühne zu bekommen. Es waren schließlich jahrhundertelang nur die privaten Salons, in denen Frauen als professionelle Musikerinnen auftreten und ihre Musik zu Gehör bringen durften.
Denkt man an Salons, liegt der Begriff „Kammermusik“ nahe. Das war für PODIUM einmal zentral – wie prägt das noch die Identität?
Selma Brauns: Kammermusik ist das Genre, in dem wir uns bei PODIUM bewegen. Aber natürlich wollen wir das Potenzial der Kammermusik anders und neu ausschöpfen. Dabei ist für uns Kammermusik auch eine Einstellung, eine Haltung gemeinsam und gleichberechtigt zu musizieren. Das funktioniert nicht nur als Quartett, sondern auch mit 20 Musiker*innen.
Mit dem Lüneburger ensemble reflektor, bei dem ihr schon lange gemeinsam arbeitet, gibt es nun ein Partnerensemble, das tatsächlich den Sound von PODIUM größer macht. Was ist das für ein Projekt? .
Joosten Ellée: Reflektor ist unsere erste musikalische Familie. Eine Gruppe von Musiker*innen, die mit tiefster Überzeugung für gemeinschaftliches Musizieren auf die Bühne tritt. Klingt wenig spektakulär, ist es aber. Wir haben uns Zeit genommen, zusammenzuwachsen, unseren Sound zu finden, unsere Identität als Orchester. Deshalb ist es für mich persönlich ein großes Glück, dass ich ensemble reflektor nach Esslingen mitbringen darf. Und wir so einen großen Klangkörper zur Verfügung haben, der uns programmatisch größere Spielräume eröffnet. Das wird sich beim Eröffnungskonzert eindrucksvoll zeigen. Aber auch beim Konzert im Autohaus. Ein Werk wie “Fuel” hätten wir sonst nie in Esslingen aufführen können.
Selma Brauns: Auch ich bin über die Kooperation von PODIUM mit ensemble reflektor sehr froh. Bei ensemble reflektor haben wir früh verstanden, dass man als Kulturinstitution nur nachhaltig arbeiten kann, wenn man in einem lokalen Netzwerk wirkt und dieses auch immer wieder mit eigenen Impulsen stärkt. Für reflektor in Lüneburg bedeutete dies zuallererst eine enge Verzahnung mit den Akteur*innen vor Ort, musikalisch offen für Kinder, Jugendliche und Amateur-Musiker*innen ebenso wie für andere Genres und Kunstsparten. PODIUM wiederum arbeitet schon seit Jahren mit einer starken überregionalen Vernetzung mit renommierten Partnern und konnte so mit innovativen Projekten eine große Strahlkraft entwickeln. In Zukunft wollen wir beides miteinander verknüpfen. Beim Eröffnungskonzert wird ensemble reflektor mit den Streicher*innen der FILUM Musikschule auf der Bühne stehen und gemeinsam musizieren. Das wird ein sehr berührender Moment, wenn Jugendliche aus der Region und Profis gemeinsam das Festival eröffnen. Ich kann es kaum erwarten!
Interview von Maybrit Hillnhagen