PODIUM ESSLINGEN
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Forderer Logos

Möglichkeiten oder wir ersticken

Ein Text von Jens Balzer

Die Lage ist ernst. Wir sind in eine Epoche der unaufhörlich sich aneinander reihenden und einander verstärkenden Krisen geworfen. Viele Menschen haben Angst und sind dünnhäutig und gereizt, viele sehnen sich nach Ruhe und Harmonie und bleiben doch umtost, betäubt und erregt von der Kakophonie der apodiktischen Meinungen, der unerbittlichen Konfrontationen, des zornerfüllten Geredes. Welche Rolle kann neue Musik in dieser Lage einnehmen - wenn sie sich nicht einfach zurückzieht in das Stiften von Behaglichkeit in der reinen Arbeit am Klang? Oder ins Gegenteil: in die musikalische Spiegelung des Unbehagens in apokalyptischen Sounds? Beides sind, glaube ich, keine Optionen, wenn man nach einem politischen Verhältnis der Kunst zu den Krisen der Gegenwart sucht. Es nützt nichts, so zu tun, als ob einen das da draußen alles nichts anginge; es nützt aber auch nichts, lediglich die schlechten Verhältnisse in schlecht gelaunter Musik widerzuspiegeln. Wenn neue Musik, wenn Kunst generell nach einer politischen Position sucht, dann hat sie doch Hoffnung und ein Gegenmodell zu unserer vielfach fragmentierten, polarisierten Gesellschaft zu stiften; im Kern der ästhetischen Utopie liegt heute - wie immer - der Glaube daran, dass es anders sein kann.

In dieser Hinsicht haben weite Teile des sogenannten Kunstbetriebs in den vergangenen Monaten und Jahren versagt. Wenn man aktuelle Diskurse über Kunst und das Kunstschaffen betrachtet, dann scheinen viele Künstlerinnen und Künstler ihren wesentlichen Beitrag zur Politisierung der Kunst nur noch darin zu sehen, Kunst zu verhindern. Politik der Kunst scheint heute vor allem eine Politik des Boykotts zu sein. Es werden Institutionen boykottiert, denen man eine Verstrickung in falsche Politik attestiert oder auch nur unterstellt; es sollen Künstlerinnen und Künstler aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, die aus einem vermeintlich falschen Land kommen oder vermeintlich falsche Ansichten vertreten (man denke an den Boykottaufruf gegen den israelischen Pavillon auf der Venedig Biennale); es wird zum Boykott von Kunst aufgerufen, die sich der „kulturellen Aneignung“ schuldig macht, also der Vermischung von kulturellen und ästhetischen Traditionen, die nach Ansicht vieler fein säuberlich getrennt voneinander gehören. So hat sich auf sonderbare und bestürzende Weise das Ideal einer politischen Korrektheit wieder verbreitet, die ästhetische Werke und deren Schöpferpersonen auf Ansichten und Zugehörigkeiten durchsucht und sich dann zur Richterin aufschwingt über das, was noch gesagt und gezeigt werden darf und was nicht. Auch findet sich in den Debatten der Gegenwart – mal besser, mal schlechter versteckt – etwas wieder, das emanzipatorische, progressive Kunst längst schon glücklich überwunden zu haben schien: das Ideal einer ethnischen Reinheit.

Wahrhaft progressive Kunst widerspricht jeder Art der Essenzialisierung, der Fragmentierung und der Polarisierung. Sie widerspricht jedem Ideal der Reinheit und der Korrektheit; sie sucht nach Transgression; sie sucht nach Verbindungen, auch gerade nach solchen, die in der restlichen Welt nicht mehr möglich sind – zwischen Menschen, zwischen Traditionen und Stilen, zwischen politischen und ästhetischen Positionen –; sie bringt zusammen, was scheinbar gerade nicht oder nicht mehr zusammengehört, und sei es, dass sie dies im Modus des Streits zusammenbringt. Progressive Kunst bricht den Diskurs nicht ab, indem sie auf Boykotte setzt, sondern sie schützt Diskurse jederzeit vor ihrem Abbruch; und sie macht sich nicht gemein mit jenen, die sagen, dass bestimmte Arten des künstlerischen Ausdrucks nur von manchen Menschen gepflegt werden dürfen und von anderen nicht. Wenn es ein Ideal für die progressive Kunst gibt, dann liegt dies darin, Möglichkeiten offen zu halten - und nicht darin: Möglichkeiten zu verschließen. „Du possible, sinon j’étouffe!“, hieß es einst bei Gilles Deleuze.

Wir leben in einer Welt, in der Möglichkeiten rapide verschwinden; in einer Welt, die von Kräften beherrscht wird, die an die Stelle einer offenen Gesellschaft und Kultur alte und neue Ideen von Autorität und Identität setzen, neue und alte Ideen von politischer und religiöser Metaphysik. Progressive Kunst hat dem zunächst und zuletzt entgegensetzen: die Feier der Immanenz, der Vermischung und des Eklektizismus; das Schaffen von Begegnungen und Konnexionen; die Einsicht, dass es in einer globalisierten und vernetzten Welt so etwas wie ethnische Reinheit nicht geben kann, wenn es sie überhaupt jemals gegeben haben sollte. Progressive Kunst muss also all jenen Möglichkeiten bieten oder - ganz konkret - ein Exil, die von der erstarkenden Hegemonie des identitären Denkens eingeschränkt oder vertrieben werden. Sie muss sich aber auch in jedem Moment darauf befragen, ob ihre eigene Art der Beteiligung an ästhetischen und politischen Diskursen, ihre eigene Verhärtung von Konfrontationen manchmal nicht allzu ähnlich dem Bild jener geworden ist, in denen sie eigentlich ihre Gegner erkennt. Progressive Kunst ist immer eine Kunst der Dekonstruktion, und wenn sie eine leitende Erkenntnis besitzt, dann lautet diese: Es gibt keine kulturelle Identität; es sei denn als Morgengruß von Gefängniswärtern.