Das erste Festivalwochenende führte Publikum, Team und Musiker*innen aus der Innenstadt hinaus – und damit fernab der üblichen Festivalspielorte. Schon lange kooperieren Standorte wie Bechtle Media und das Autohaus Jesinger mit PODIUM und schenken der Musik den Charme von Werkstatt und Maschine. Und die füllt die außergewöhnlichen Räume mit gewagten Ästhetiken: Am Samstag entführte vor der Achterbahn der Zeitungsdruckerei das Trio First Strings on Mars zu globalen Sounds. Am Sonntag stand die PODIUM-Stage über den Hebebühnen der Jesinger-Werkstatt – „Industrie- und Musikkammer“ stellte die seltene Form des Streichoktetts in den Mittelpunkt eines Programms, das sich dem Einfluss der Industrialisierung auf die Kunstmusik seit dem 19. Jahrhundert widmete.
Mit den zwei Oktettsätzen von Dmitri Schostakowisch begann der Abend offensiv wie offensichtlich, ist der Name des russischen Komponisten doch wie kaum ein zweiter mit einem augenzwinkernden wie erhabenen Zugang zu einer Ästhetik der Industrie verbunden. Er komponierte im Auftrag der stalinistischen Sowjet-Behörden eine Hymne zum Jubiläum der Oktoberrevolution, die in ihrer Atonalität ebenso „Happy Birthday“ zitiert wie sich klangfigürlich an Fabriksirenen orientiert, zugleich erboste er das Regime mit seinem Ballett über Industriesabotage. Die zwei Oktettsätze von Schostakowitsch, typisch für die Musik der frühen Sowjetunion, stürmten gewaltig wie die unaufhaltsamen Massen der Arbeiter*innen, rasselten im engmaschigem Rhythmus von Maschinen der damals noch fast utopischen Großindustrie. Und fanden doch immer wieder Momente elegischer Ruhe, die, wie die Einführung der Musikjournalistin Marie König interpretierte, das Verhältnis des Individuums zum Funktionieren des großen Ganzen symbolisierten könnten.
Versteckter ist der Bezug zur Industrie hingegen beim zweiten Stück, zwei Sätzen aus Felix Mendelsson Bartholdys Streichoktett. Während Schostakowitsch zu Zeiten monumentaler Turbinen und Gebläsemaschinen schrieb, bedeutete Industrie sieben Jahrzehnte zuvor noch Dampfmaschine – der Rhythmus der mechanischen Webstühle, die sich zu Zeiten des Komponisten durchsetzten, ist erahnbar, vor allem aber ist es eine Vorahnung eines neuen Klangs, der die Umwälzung der Welt ankündigt, die sich – bezeichnenderweise – im schwirrenden Scherzo Bahn bricht.
Iannis Xenakis‘ Stück „Rebounds A“ erwischte das Publikum dann geplant auf dem falschen Fuß: Philipp Lamprechts abstrakt rhythmisches Schlagwerk fuhr von fernab der Bühne allen in die Knochen. Der zur Reparatur in der Werkstatthalle geparkte Notarztwagen am Rande des Konzertbereichs wurde freilich trotz der Klanggewalt nicht benötigt. Und auch die Streichquartette, die sich in Osvaldo Golijovs „Last Round“ gegenüberstehen, tun am Ende nur so, als wären sie KO – das aber mit Verve. „Last Round“ bezieht sich auf die abgebrochene Box-Karriere des Tango-Revolutionärs Astor Piazzolla – Artiom Shishkov, Johanna Ruppert, Florian Willeitner, Aoife Ní Bhriain, Friedemann Slenczka, Ian Anderson, Stefan Hadjiev und Jakob Schall prügeln sich mit schroffen Klangschlägen, Kontrabassistin Kristina Edin muss schlichten, richten und auffangen, wo die getroffenen Streicher fallen.
Eine Uraufführung fernab der Musik der Hochzeit der Industrialisierung feierte Ian Andersons Stück „Speak Louder; Shout! For I am Deaf!“. Der Titel ist ein Zitat Beethovens, der, seinen baldigen Tod erahnend, wünschte, er könnte seine Taubheit so mitteilen, dass er sie doch in der Lautstärke überwinde. Entsprechend lässt Anderson das Publikum Beethovens Gehör erleben, aus einem Beethoven-Quartett entwickelt sich ein immer stärker fragmentiertes Spiel für Streicher, das langsam in einem stetig ohrenbetäubender werdenden Weißen Rauschen untergeht, bedrohlich, körperlich schmerzhaft, vor allem: traurig.
Bei Florian Willeitners Projekt „First Strings on Mars“, das am Samstag in der Bechtle-Druckerei aufspielte, will sich Traurigkeit selbst in den melancholischen Stücken nicht aufdrängen. Der langjährige PODIUM-Weggefährte und Violinist aus Bayern hat mit seinem Jazztrio gemeinsam mit Georg Breinschmid am Kontrabass und Igmar Jenner an der Violine eine seltene Form gefunden: Reine Streicherbesetzungen sind im Jazz noch immer eine Rarität – trotz der großen Tradition, die die Geige im Genre besitzt. Noch rarer ist freilich die „Soul Fiddle“, das Instrument, das Willeitner gemeinsam mit einem Geigenbauer als Spezialanfertigung entwickelte.
In kurzen Gesprächen mit Moderatorin Marie König und launigen Bühnenansagen vermittelt sich die Musik des Trios und der erweiterten Quintett-Besetzung mit Friedemann Slenczka und Stefan Hadjiev. Dass Willeitner gerne reist – oder eher: backpackt – hörte man der Musik aber auch ohne Hintergrundwissen an. Überdeutlich ist etwa das Stück „Novemberlicht“ von irischem Folk, die „Samba Sketches“, man ahnt es, von brasilianischen Rhythmen geprägt. Der Mars kommt keineswegs zu kurz, auch kleine Ausflüge in die Fantasy-Welt sind mit dem Stück „Dark Romance or the Short Life of Mister Gimli Hope“ zu erleben. Die Geige, die bei PODIUM so oft in Werken europäisch-weißer Kunstmusik zu hören ist, ist nämlich eigentlich ein die Kulturen transzendierendes Instrument mit Traditionen, die von Stradivari über Schnuckenack Reinhardt zur peruanischen Kitaj reichen – einer Mischung aus Ukulele und Geige, die auf ältere Saiteninstrumente der Inkas zurückgeht. Und damit Willeitners „Soul Fiddle“ sehr nahe kommt.
Euphorisch begrüßte das Publikum aber auch die Stücke Georg Breinschmids, die wesentlich enger dem Jazz verwandt sind und den Kontrabassisten beim Ganzkörpereinsatz zeigten, der trommelt, haut, zupft, tanzende und harte Rhythmen legt, die den Geigern Beine machen. „Swindler“ heißt das letzte Stück, Schwindler: Vielleicht übersehen wir ja alle etwas, aber an diesem Abend wirkte das alles ganz und gar substanziell.
Als die letzten Töne verklungen sind, beginnt bei Bechtle der Abbau, beim PODIUM packen vom künstlerischen Leiter bis zur Volunteerin alle an. Als das letzte Podest im Lieferwagen zurück in die heimischen Gefilde in der Innenstadt verstaut ist, laufen hier die Druckrollen an, und als die ersten Ausgaben der „Bild am Sonntag“ vom Band laufen, ist hier jeder große Schwindel längst Geschichte.
Fotos: Christoph Püschner / Zeitenspiegel