PODIUM ESSLINGEN
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Forderer Logos

Dranbleiben!

Ein Text von Steffen Greiner

Vielleicht lässt sich gar nicht im Vorhinein planen, welche Sounds ein Festival prägen. Oldie im Radio, zufälliger Ohrwurm, zu lange gepfiffen, schon liegt über dem Festival ein Hauch „Hope of Deliverance“. Oder der ominöse Esslinger local hero gone big amongst the teenagers Edwin Rosen spielt zufällig nebenan – schon sind Wolfe, Brahms und Cage vergessen. Wenn das PODIUM Festival des Jahres 2022 einen Sound hat, dann ist es die unwahrscheinlichste Hymne, die denkbar ist: ein etwa 25minütiges Avantgarde-Stück zwischen Improvisation und Kontrolle.

Julius Eastmans „Stay On It“ eröffnete 1973 nicht nur einen neuen Weg für die musikalische Avantgarde, sondern dachte auch die Rolle von Komponist*innen ganz neu. Nicht als Autor*innen, sondern als Kindergärtner*in, als lenkende Elemente in einem Wunderland kreativer Freiheit, das gerade durch das sanfte Schubsen in eine festgelegte und durchaus strenge Struktur sich entfalten kann. Jazz ist das nicht, Pop auch nicht, nicht Minimalismus, natürlich nicht Neue Musik. Improvisation: nein, ein Jam: eher nicht, ex tempore: nie. Es gibt Layers und Themen und Grooves, vor allem Grooves, aber eben auch Dissonanzen, verstörende Brüche, und alles ist darin angelegt, nichts davon vorgegeben. Nicht einmal die Instrumente und nicht ihre Anzahl. Die Spielenden entscheiden über die Phrasen, über die Dauer von Wiederholung, die Kommunikation auf der Bühne, wie auch immer das Ensemble sie gestalten will, ist der Schlüssel. Höchste Konzentration verlangt das Stück ebenso wie entfesselte Spielfreude.

Nachtkonzert LUX Esslingen

Diese kurzen Figuren und Ebenen, deren Wiederholung und Wechsel, erdenkt zu Beginn seiner Karriere ein queerer Schwarzer Komponist aus New York, der seine Identität immer wieder in seine Stücke einfließen lassen wird, allein das ein Angriff auf den weißen Minimalismus seiner Tage. John Cage jedenfalls war sehr empört, als bei einer Aufführung seiner Musik der junge Eastman ein Pärchen sich entkleiden ließ – offensiv begehrend on stage. An der Qualität und der Relevanz seiner Stücke liegt es nämlich sicher nicht, dass der 1990 jung gestorbene Eastman schnell vergessen und erst seit wenigen Jahren wieder neu entdeckt wird. Insbesondere seine Stücke der späten Siebziger – provozierend im rassistischem Slang betitelt, dem sich Eastman ausgesetzt sah - stehen heute gleichermaßen erratisch wie doch wegweisend für einen Sonderweg der Musikgeschichte, der mit seiner Offenheit für die Kreativität der Musiker*innen heute wieder verführerisch zu begehen scheint.

Dass „Stay On It“ bei PODIUM gleich zweimal aufgeführt wurde, war allerdings nicht zu erwarten. Einmal freilich war es geplant – am Samstag beim Nachtkonzert im KOMMA. Das zweite Mal hingegen spontan – nach dem krankheitsbedingten Ausfall der beiden Extempore-Sessions, die die Geigerin, Komponistin, Musiktheoretikerin und Dichterin Maria Reich geleitet hätte, fand sich intuitiv ein großes Ensemble zusammen, am Mittwoch im LUX das Stück im intimeren Rahmen aufzuführen. Zweimal „Stay On It“ binnen einer halben Woche – eine Herausforderung auch für das Publikum, das im LUX augenscheinlich eher der Jazz-Szene als der Klassik zu entstammen schien. Und zugleich ein wundervolles Beispiel, wie kraftvoll kreativ Stücke in Open Instrumentation sich entfalten – also Stücke, bei denen die Komponist*innen nicht die Besetzung vorgeben. Stücke, die gespielt werden können mit jeder*m Musiker*in, die sich mit den teilweise komplexen Wegen ihrer Struktur vertraut zu machen bereit sind.

 

Entsprechend erklang das supereingängig groovende Schlüsselmotiv zweimal in völlig unterschiedlicher Farbe. Samstag trugen Flöte (Isabelle Raphaelis) und Klarinette (Viviana Rieke) mit ihrem spezifischen Jazz-affinen Klang große Verantwortung, Isabel Pfefferkorn prägte – als einzige Sängerin des Festivals ohnehin eine Sensation, siehe die hymnischen Besprechungen zu „River“ in der Esslinger Zeitung – mit ihren kraftvollen repetitiven Phrasen dem Stück ebenfalls einen leichtfüßigen Vibe auf. Trompeter Per Oftedal übernahm immer wieder die Führung und sorgte im abstrakten Rauschen des letzten Drittels des Stücks für einen Moment klanglicher Erlösung, als er die Gruppe mit vorpreschendem klaren Sound wieder zum Kernmotiv führte.

Per Oftedal lenkte auch im LUX die Gruppe, die sich im Sound schwerer präsentierte und rein instrumental antrat. Der engere Raum sorgte für einen kompakteren Klang, die luftige Verspieltheit wich dem Eindruck einer kompakten Soundbatterie – Anton Schultze am Horn, Moritz Wappler am Schlagwerk, Josefa Schmidt am Klavier und die tighte Streichfraktion um Marc Kopitzki und Kyogo Okawa führen hier eine engagierte Version, die den dicht gefüllten Raum ganz erobert.

Die dritte Version nun ist eine fortlaufende: In der Festivalzentrale im KOMMA erklingen seitdem immer wieder Fragmente von Phrasen, von Rhythmus, einer trommelt, pfeifend steigt eine andere ein. Eastman zu Abendzettel und zu veganer Bolognese: Die Provokation entpolitisiert, vielleicht, aber die Freude am Spiel scheint doch im Sinne des Grenzgängers.

Fotos: Christoph Püschner / Zeitenspiegel

Nachtkonzert LUX Esslingen