Großes Hallo im PODIUM-Team: Mensch, sind die groß geworden! Die vier Herren des vision string quartet gehören zu den Urgesteinen des Festivals. Schon als Jugendliche standen sie in Esslingen auf der Bühne, 2012 gründeten sie, Anfang 20 erst, das vision string quartet, zugleich Streichquartett wie Band. Und, ja, sie sind groß geworden – populäre Auszeichnungen wie der Opus Klassik und renommierte Kritikerpreise wie den Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Hochschulwettbewerb in Berlin, ein Vertrag mit dem Label Warner Classics und Auftritte in renommierten Häusern wie der Hamburger Elbphilharmonie und der Londoner Wigmore Hall beweisen es. Für einen Abschiedsgruß an den Gründer von PODIUM Steven Walter kommen sie dennoch einmal in eine Halle mit weniger universellem Ruf, aber dafür heimeliger Vertrautheit: ins Neckar Forum.
Die aufgrund der Pandemie natürlich arg eng gezogenen Nähte der großen Halle platzten beinahe auf, das Konzert fast ausverkauft: Auch wer nicht mit PODIUM vertraut ist, wohl aber mit innovativer Kammermusik mit Mut zu Pop-Elementen, wird dem vision string quartet in den letzten Jahren über den Weg gelaufen sein. Entsprechend zieht das Quartett Fans aller Altersklassen an. Und die vier wissen um ihren Rockstar-Appeal! Zu schade da fast, nur Musik spielen zu dürfen – entsprechend kommentieren in der zweiten Konzerthälfte erste Geige Jakob Encke und Bratscher Sander Stuart mit Charme und Chuzpe, was zu hören ist, Spieltechniken und Songtitel. Die Stücke ihres zweiten Albums „Spectrum“, das Ende August erscheint, entwickeln elektronisch verstärkt und mit dem auf bassige Tiefe herunterregulierten Cello Leonard Disselhorsts gehörigen Groove. Zweite Violine Daniel Stoll gibt derweil den Geigen-Santana. Unvorstellbar fast, dass das die gleiche Gruppe sein soll wie die, die den Abend mit einer musikalisch hochversierten Variante von Maurice Ravels Streichquartett in F-Dur eröffnete.
Was hätte wohl Rainer Maria Rilke den vier Jungs geraten? „Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muß ich schreiben?“, heißt es in den „Briefen an einen jungen Dichter“, die der Poet 1929 der Öffentlichkeit zugänglich machte. Muss das vision string quartet Samba-Grooves spielen? Wer weiß. Franz Xaver Kappus, der historische Adressat der Briefe, wurde im weiteren Verlauf seines Lebens zwar kein Dichter, aber doch Schriftsteller und Journalist. Die Ratschläge, die er vom Altmeister erhielt, stehen nun im Zentrum eines musikalisch-literarischen Abends, konzipiert vom künstlerischen Leiter von PODIUM selbst, Steven Walter – auch ein Abschiedsgeschenk, diesmal von Walter an die Stadt, das unter dem Namen eines anderen Rilke-Evergreens läuft: „Du musst Dein Leben ändern“.
Auch am Dienstag im Kaisersaal des Amtsgerichts blieben keine Stühle leer. Im Saal trifft barocke Pracht auf rechtsstaatliche Nüchternheit. Oben Rüschen, unten als einziger Schmuck drei Flaggen rechts vom Richterpult, hinter dem hier Schauspieler Thomas Halle Platz nimmt – den Dichter stimmlich repräsentierend, dessen den Zweifeln durchaus zugeneigten Apodiktismen angemessen. Zwischen den Bänken für klagende und angeklagte Partei, quasi im dauerhaften Zeugenstand, findet das Malion Quartett Platz, das am Abend zuvor im Blarersaal beim Programm „KAMMER:MUSIK“ bereits mit exquisitem Spiel zwischen Post-Minimalismus und Wiener Klassik für Aufmerksamkeit sorgte.
Musik und Text ergänzen sich hier nicht nur, sie sind ineinander verwunden, die Stücke pausieren und machen Platz für Rilkes Gedanken: Johannes Brahms‘ Quasi Minuetto aus dem zweiten Streichquartett in a-Moll und und Strawinskys Stücke für Streichquartett zwischen Rilkes Eindrücken von Rom und Liebe, nachdrücklich gelesen von Thomas Halle. Mit dem Schema bricht die Aufführung von John Cages „4’33““, einem Schlüsselwerk der Neuen Musik, dargeboten von PODIUM-Weggefährte Iñigo Giner Miranda am Cello. Statt das Weihevolle der Kunstmusik aufzubrechen, wie Cage seine stillen vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden konzipierte, zeichnet Giners Interpretation eher affirmativ den Reflexionsprozess des Publikums nach und wendet es so humanistisch. Wenn der Abend, der mit der titelgebenden Zeile ausklingt, auch nicht Leben ändert, deutet er mit dieser Aufführung doch zumindest ein Meisterwerk neu – es sind schließlich, das weiß natürlich auch Rainer Maria Rilke, durchaus – die kleinen Dinge.
Fotos: Christoph Püschner / Zeitenspiegel