Die Zwanziger: Roaring und golden, aber auch ein weißer Fleck auf der inneren Landkarte. Grob geht die Erzählung des Jahrzehnts in Deutschland so: Republikgründung – Inflation – Marlene Dietrich – Hitler. Es gibt Bilder von Bubikopf und Arbeitslosenheeren, es gibt die Roboterfrau aus „Metropolis“ und der Mörder aus „M“. Nichts passt zusammen, in dieser Erzählung, und vielleicht darum alles so gut zum Heute, sodass der erst wenige Monate zurückliegende Jahrzehntwechsel in die neuen Zwanziger gar nicht vonnöten gewesen wäre, um die Parallelen zu erkennen. Und schon gar nicht, wie damals, eine globale Seuche.
#bebeethoven-Fellow Iñigo Giner Miranda hat sich in seiner Produktion „1920“ zur Aufgabe gemacht, das Diskurs-Rhizom jenes Jahres aufzudröseln. Am gestrigen Mittwoch feierte das dokumentarische Musiktheater seine Uraufführung im Central Theater Esslingen im Rahmen des PODIUM Festivals – ein angemessener Raum, mit seinem angestaubten Speakeasy-Charakter voll Kleinstadteleganz. Vier Musiker*innen im Anzug, ein echtes Salonorchester: Aoifee Ní Bhriain an der Violine, Meriel Price am Saxofon, Jakob Schall am Violoncello und Giner selbst am Flügel mit reichlich Pomade im Haar, dazu ein Röhrenradio und die doch sehr militärisch wirkenden Bildwerfer mit dem sprechenden Namen Torpedo, die mit den visuellen Mitteln der Zwanziger den Abend optisch ergänzen.
Ein Jahr ganz erfassen, will Giner, und das heißt: Eben weggehen von den Bilderbuch-Topoi, eben wegzugehen auch – aus Berlin, aus den Zentren, und mit Spoken Words, Musik und Projektionen auf die Bühne bringen, wie sich das Große im Kleinen spiegelt. Denn auch die Eßlinger Zeitung berichtet 1920 vom Rechtsruck in der jungen Republik, der im März 1920 im Kapp-Putsch mündet – die Demokratie konnte nur durch einen Generalstreik gerettet werden, der die völkischen Truppen und ihre Führer aus den Regierungssitzen zwang. Auch in Esslingen werden im Jahr 1920 Einführungen in den Vegetarismus gegeben. Es wird über Dieselmotoren gestritten, Wohnungsnot beklagt und gefordert, die Abschaffung der Lohnunterschiede zwischen Männer und Frauen in die Verfassung aufzunehmen. Und: „Die bürgerliche Kunstpflege zeichnet sich dadurch aus, dass die die genialsten Künstler hungern und verhungern lässt und nach ihrem Tode ihnen Denkmäler baut“ – ein Kommentar zur Begehung des Jubiläums des 150. Geburtstags Ludwig van Beethovens.
Es gibt nicht die eine Musikgeschichte, sagt Iñigo Giner Miranda: Es gibt Parallelbewegungen und Verwebungen, Anschwellen und Abschwellen – und zum Kulturerbe gehört eben auch das Vergessene und Verdrängte. Das gilt umso mehr unter der Lupe, wie sie das Konzept von „1920“ schließlich darstellt. Eröffnet wird der Abend von einem Stück von George Gershwin, von Giner gesungen mit angemessenem Schmalz in der Stimme, es folgen das stürmende „La Belle Excentrique“ von Eric Satie, die dadaistische „Sonata Erotica“ von Erwin Schulhoff, Jazz von Rudy Widoeft, eher Klassisches von Ravel und Saint-Saëns. An die 1920er als Zeitalter der Funktionalität, von Bauhaus und Frankfurter Küche, gemahnt das ironische „Musique d‘ameublement“ von Satie: „Betreten Sie keine Räume, in der nicht Einrichtungsmusik läuft“, proklamiert Giner vom Flügel
Zentral inszeniert wird das avantgardistisch dräuende „The Voice of Lir“ des amerikanischen Komponisten Henry Cowell. Cowell wird heute selten aufgeführt, in europäischen Kontexten ist er wenig bekannt – wohl auch, weil seine Musik noch immer singulär steht: Jahrgang 1897, erlernte er autodidaktisch Klavier und Komposition, bevor er Anschluss an die Kreise der kalifornischen Avantgarde fand. Er beschäftigte sich als Student mit Theosophie und irischer Mythologie, die die Themen seiner Werke prägte, und saß wegen homosexueller Handlungen im Gefängnis. Er arbeitete als einer der ersten westlichen Komponist*innen mit Atonalität, Polyrhythmik, Tonclustern und mit nicht-eurologischen Tonleitern und war als Erfinder des ‚String Piano‘ ein Wegbereiter des Prepared Piano – Steckenpferd wiederum unseres anderen #bebeethoven-Fellows Mathias Halvorsen.
Ebenfalls unter dem Radar – und damit von großem Interesse für die alternative Musikgeschichte des #bebeethoven-Fellow Giner: die französische Komponistin Lili Boulanger. Aus einer alten Musiker*innen-Familie stammend, erhielt die früh chronisch an Pneumonie erkrankte Boulanger bereits als Kind Unterricht in Komposition. Mit 16 beschloss sie, das zum Beruf zu machen, vier Jahre später gewann sie als erste Frau den Grand Prix de Rome, den wichtigsten französischen Kunstpreis. Von dort an ließen ihre körperlichen Kräfte nach, sie starb 1918 im Alter von 24 Jahren und hinterließ ein Werk voll glühender, oft sakraler Musik, in der Leid und Erlösung nebeneinanderstehen.
Vielleicht ist sie damit emblematisch für das Zeitalter, das sie nicht mehr erleben durfte: Die Zwanziger in ihrer Widersprüchlichkeit und rhizomatisch wuchernden Vielfalt, an diesem Abend erstrahlten sie noch einmal ganz, in einer Inszenierung, die inhaltlich wie musikalisch überzeugte. Ein besonderes Konzerterlebnis in der Atmosphäre eines verrucht-eleganten (und dennoch: Corona-awaren) Salons, das Lust macht, weiterzuhören, an Stellen, die zuvor begraben waren unter dem Klischee vom Jahrzehnt von Charleston und Comedian Harmonists.
Fotos: ⓒ Christoph Püschner