Die Eröffnungsrede nach ein Eröffnungskonzert zu setzen, das ist zwar wie ein Hundert-Meter-Lauf vor dem Entzünden der olympischen Flamme. Dramaturgisch natürlich aber auch einzig sinnvoll: Denn mit dem wunderschönen „Jesus Blood Never Failed Me Yet“ des britischen Komponisten Gavin Bryars von 1971, das auf dem zufällig aufgeschnappten Gesang eines Obdachlosen basiert, beginnt der Abend mit einem sanften Intro. Gleich ganz hineingezogen wird das Publikum so in das außergewöhnliche Konzert, das das PODIUM Festival 2021 eröffnet. Veröffentlicht wurde das Stück später mit dem Gesang von Tom Waits, hier ist es arrangiert für Laute, Schlagwerk und Cembalo, und das ist das perfekte Bild für den Abend, an dem die Musik der Metropolen der Moderne in die von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges gebeutelten oder just aufgrund des kolonialen Handels aufblühenden Residenzen des Barock fließt: New-York-Sound für ein Ferrara-Instrumentarium.
„Baroque Immersions“ heißt das Programm, acht Musiker*innen stehen auf der Bühne, entscheidend aber ist an diesem Abend das Mischpult, denn der Saal der Württembergischen Landesbühne ist mit komplexer Technik ausgestattet – und über 20 Lautsprechern, die es ermöglichen, den Klang tatsächlich immersiv werden zu lassen, statt frontalem Sound von der Bühne ein echtes Klangbad auszugießen. Vier massive Boxen stehen trotzdem vorne on stage, der Rest fast unsichtbar im Zuschauerraum. „Immersions“ ist bei diesem Raumklang wörtlich zu verstehen.
Die Bühne leert sich nach dem geloopten Stück Bryars‘. Oft wechseln Besetzungen, still gehen Musiker*innen ab und auf. Das heimliche Motto des Festivals, das Wiedersehen mit alten Weggefährt*innen, bestätigt sich an diesem Abend exemplarisch: Elina Albach an Truhenorgel und Cembalo ist seit Jahren regelmäßig Gast, gemeinsam mit dem auch hier als rhythmische Naturgewalt mit Augenzwinkern auftretenden Schlagwerker Philipp Lamprecht entwickelte sie etwa 2019 die erfolgreiche Produktion der „Johannespassion“ für Tenor allein und feierte im Frühjahr mit „ORFEO“ Premiere, einer minimalistischen Version der barocken Monteverdi-Oper „L’Orfeo“. Liam Byrne spielte im April wie heute die Viola da Gamba. Joosten Ellée, hier neben Yves Ytier an der Violine und Ildiko Ludwig an der Viola zu sehen, wird wiederum das Festival ab der nächsten Ausgabe als künstlerischer Leiter gestalten. An der Theorbe vervollständigt David Bergmüller das Ensemble.
Liam Byrne ist es, der dem Abend mit einem Solostück eine neue Richtung gibt. „In Nomine“ ist ein Motiv der christlichen Liturgie, das ab dem 13. Jahrhundert in einer Fassung von John Taverner überliefert ist. Eine Variation aus der Feder der Renaissance-Figur Picforth, über den*die nichts bekannt und von dem*der nur dieses Stück von 1578 überliefert ist, baut sich mit Gambe allein und mehrfach geloopt langsam auf, repetitiert sich in Patterns, erzielt so einen Effekt, der an klassischen Minimalismus denken lässt. Eine schwelende, schwermütige Spiritualität, die unter Byrnes Strichen auf der Gambe das Publikum fast körperlich erfassen will. Das „In Nomine“-Motiv wird später noch einmal aufgegriffen, der zeitgenössische Komponist Johannes Schöllhorn hat es für Streichtrio arrangiert. Dazwischen zieht mit der „Sonata II g-Moll“ von Georg Muffat, einem Vertrauten des französischen Hofkomponisten Lully, das Tempo an zu einem tänzerischen Stück Barock wie Barock will.
Johann Christoph Bachs „Ach, daß ich Wassers gnug hätte“ zieht sich mit der Stimme des Countertenors William Shelton aus dem morastigen Wummern der Truhenorgel, die im immersiven Klangbild ein basslastiges Fundament bildet. William Shelton ist es auch, der im großen Finale dieses Abends, der immer neue Klangfarben in den barocken und post-barocken Stücken findet, das vom Band gesetzte „Just“ des US-Minimalisten David Lang doppelt. Gemeinsam mit der sensiblen Rhythmik Philipp Lamprechts bildet sich ein Sog, der das Publikum sofort in Bann schlägt: „Just your voice, just your face, and my beloved“, eine Hymne in Repetition, aufgebaut auf dem alttestamentarischen Hohelied.
Wenn dieser Abend eine Frage stellt – abgesehen von der, ob doch noch das Festival eröffnet wird, so ganz offiziell (die Antwort ist: Ja, sicher, Steven Walter betritt nach dem Schlussapplaus die Bühne, um die neue Runde einzuläuten) – dann diese: Warum finden Stücke des Barocks und Stücke des Minimalismus so gut zueinander? Scheinbare Gegensätze, das Überbordende auf der einen, das zurückgenommene, abstrakte Muster auf der anderen. Aber vielleicht beides Antworten auf Zeiten, die Zeiten der Unruhe sind. Im Barock wurden Unsicherheiten ungefiltert erfahren und Emotionen offen gelebt. Barocke Kulturtechnik, die intuitiv verstanden wird an einem Abend, der in einem anderen Teil des Landes erschreckend unmetaphorisch aufzeigt, dass das plötzliche Einreißen des sorgfältig Gebauten, dass das Ausgeliefertsein höheren Mächten, kurz: Dass Memento Mori zwar ein vormoderner, aber kein überkommener Gedanke ist.
Fotos: Rainer Kwiotek / Zeitenspiegel