PODIUM ESSLINGEN
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PODIUM.tuned - Projekte + Konzerte

Ein Text von Henrike Hoffmann

Im Rahmen von „tuned – Netzwerk für zeitgenössische Klassik“, ein Programm der Kulturstiftung des Bundes, experimentiert PODIUM mit verschiedenen Formaten in den Bereichen Bühne, Publikum und Organisation und präsentiert 2024 das Teilprojekt BRUCKNER.lab, die Klanginstallation BODIES OF WATER und den Start des Teilprojekts ATONAL FÜR DEUTSCHLAND sowie den Komponisten und Schlagzeuger Lukas Akintaya als Künstler in Residence.

BODIES OF WATER

Tauende Permafrostböden, schmelzende Eispanzer, steigende Meeresspiegel, Extremwetter und Trinkwasserknappheit. Ohne Wasser gibt es kein Leben auf der Erde. Zu viel als auch zu wenig Wasser kann schnell zur Bedrohung werden – die Bilder der Ahrtalflut 2021, von schwersten Waldbränden weltweit und von Wasserrationierung im Sommer 2023 haben sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Der Klimawandel und seine Auswirkungen gehen uns alle an. An den Polarkappen und im Globalen Süden betreffen die Auswirkungen des Klimawandels vielfach Menschen, die ein ganz anderes Verhältnis zur Natur haben als Menschen in den Industrienationen, die hauptsächlich für den Klimawandel und das damit verbundene Leid vieler verantwortlich sind. Es ist wichtig, ihnen zuzuhören. Deshalb haben wir außereuropäische und indigene Künstler*innen gebeten, mit uns musikalische Mahnmale für das Wasser zu setzen.

Das indonesische Duo “Tarawangsawelas” um Teguh Permana aus Bandung hat eine zeitgenössische Version der sakralen Tarawangsa Musik aus dem sundanesischen Westjava entwickelt, die neben den zwei traditionellen Instrumenten Tarawangsa und Jentreng auch diverse Effektgeräte verwendet. Tarawangsa Musik ist eng verbunden mit Reisernte-Ritualen. Teguh Permanas Neukompositionen werfen ein Licht auf die Herausforderungen für die Reisbauern, die mit Dürre, Wasserverschmutzung und Überflutungen zu kämpfen haben.

Teguh Adi Permana ist der Gründer des zeitgenössischen Ensembles Tarawangsawelas, das für seinen innovativen Ansatz in der sundanesischen Musik bekannt ist. Als Solist spielt Teguh gekonnt die Suling, zusätzlich zur Tarawangsa und den begleitenden Pedalen. Als Absolvent des ISBI (Institut Seni Budaya Indonesia) in Bandung ist Teguh von der Bedeutung der musikalischen Auseinandersetzung mit kulturellen und gesellschaftlichen Fragestellungen überzeugt, wobei er häufig Themen im Zusammenhang mit der sundanesischen Kosmologie und der lokalen sozialen Dynamik erforscht.

Melody McKiver ist stolzes Mitglied der Obishikokaang Lac Seul First Nation in der Region der Großen Seen (Kanada). In their Musik verbindet die Komponist*in Elektronik mit westlicher klassischer Musik, um ein neues Genre von Anishinaabe-Kompositionen zu schaffen. Für die Klanginstallation kombiniert Meldody McKiver Tonspuren von Erzählungen ausgewählter Anishinaabe Elders mit Bratschen- und Synthesizerklängen und beleuchtet damit regional spezifische Themen wie Landraub, Wasserverschmutzung und die indigene Wasserkrise.

BRUCKNER.lab

Anton Bruckner, dessen Geburtstag sich 2024 zum 200. Mal jährt, gilt als Komponist mit unverwechselbarer Tonsprache. Musikgeschichtlich hat Bruckner einen Wendepunkt geprägt: Als erster Komponist der Musikgeschichte widmete er sich fast ausschließlich der Gattung der Sinfonie und prägte sie nicht zuletzt mit seinen groß angelegten Werken und seiner einzigartigen musikalischen Sprache, die viele seiner Zeitgenoss*innen irritierte, aber richtungsweisend für nachfolgende Komponist*innen wurde. Darüber hinaus arbeitete er – zu seinen Lebzeiten unüblich – kollaborativ mit seinen Schülern und ließ ihre Beiträge vielfach in seine Werke einfließen. Aus dem Anspruch heraus, den Kanon zu transformieren und angelehnt an Bruckners Schaffen in Kollaboration mit seinen Schülern entstand das BRUCKNER.lab. Darin hinterfragt ein genreübergreifendes und interdisziplinäres Kompositionskollektiv, bestehend aus den Komponist*innen Cymin Samawatie (musikalische Leitung), Ying Wang, Maria Reich und Ketan Bhatti sowie der Autorin Simoné Goldschmidt-Lechner, die traditionelle bürgerliche Sinfonie nach dem Vorbild Bruckners künstlerisch und holt sie in die Gegenwart. Die dabei entstehende „Sinfonie der Gegenwart“ thematisiert unsere postmigrantische, diverse und demokratische Gesellschaft und gibt der Gattung Sinfonie eine neue Aktualität.

Stadtteilkonzerte

Welche Kraft und Rolle Musik als identitäts- und gemeinschaftsstiftendes Element für eine Gesellschaft hat, zeigen wir darüber hinaus in drei Stadtteilkonzerten mit Esslinger Gruppen und Vereinen, die künstlerisch aktiv und für ihre Stadtteile wichtige Anlaufstellen für Gemeinschaft und Austausch sind. Unter der musikalischen Leitung von Juri de Marco und Bartosz Nowak (Stegreif Orchester) entstehen gemeinsam mit dem Kirchenchor der Christuskirche am Zollberg, dem Musikverein Zell-Oberesslingen und mit zwei Tanzgruppen von Kids Dance aus Pliensauvorstadt improvisatorische Formate mit Sound Painting, Gesang, Tanz und Musik. Ausschnitte der einzelnen Konzerte werden in einer Videoinstallation im Kontext des Abschlusskonzerts ausgestellt.

Werkstattkonzerte

Bevor das Projekt im großen Abschlusskonzert des Festivals 2024 mündet, bei dem das neue Werk uraufgeführt wird, führen drei Werkstattkonzerte mit verschiedenen Schwerpunkten und Beiträgen thematisch an die Sinfonie heran: Wie wurde die Sinfonie als demokratische, musikalische Ausdrucksform geboren? Welche Bedeutung hatte sie zu ihren Hochzeiten für die Gesellschaft und musikwissenschaftlich? Und wie kann die Sinfonie als Gattung heute relevant bleiben?

ARTIST IN RESIDENCE

Unsere vielfältige Gesellschaft vereint Menschen unterschiedlichster Hintergründe und bietet einen breiten, diskursiven Nährboden für diverse, die Gesellschaft spiegelnde künstlerische Ausdrucksformen. Auch die klassische Musikszene sollte die gesellschaftliche und künstlerische Vielfalt anerkennen und sich von strengen Genre-Grenzen lösen - “post genre” ist schon lang ein integraler Begriff in der dramaturgischen Arbeit des PODIUM Festivals. Im Rahmen der Förderung im Netzwerk “tuned” setzt PODIUM ein Artist-in-Residence-Programm auf, das Künstler*innen mit gezielt nicht-klassischem Hintergrund einlädt, in den Dialog mit PODIUM Musiker*innen und Ensembles zu treten und noch vorhandene Gräben zwischen den Genres zu überwinden.

Für 2024 wurde der Schlagzeuger, Komponist und Performer Lukas Akintaya ausgewählt und wird beim Festival in Esslingen zu Gast sein. Er ist vor allem in der europäisch-amerikanischen Improvisationsmusikszene aktiv, widmet sich aber auch experimentellen Soloprojekten und arbeitet immer wieder ko-kreativ mit Tanz-, Theater, Performance- und Installationskünstler*innen zusammen. Sein Sound bewegt sich zwischen atmosphärischen instrumentalen Soundscapes über melodische Kompositionen bis hin zu persönlicher Poesie und politisch engagiertem Storytelling. Während seines Aufenthalts bei PODIUM entwickelt Lukas Akintaya zwei Programme: In Ko-Kreation mit der Tänzerin Naïma Mazic entsteht ein Beitrag aus Schlagzeug- und Tanzimprovisation für das Konzert “SIRI, WAS IST FREIER WILLE?” Darin gehen Lukas Akintaya und Naïma Mazic der Frage nach Freiheit und gesellschaftlichen Vorgaben nach. Mit der DJ KA-RABA entsteht ein Konzert in Clubatmosphäre, bei dem die zwei Künstler*innen mit Schlagzeug, DJ-Pult, Samples und Recordings Rhythmus und Spiritualität nachforschen.

ATONAL FÜR DEUTSCHLAND

Rechtsextremistische Angriffe gegen die Grundfesten unserer Demokratie werden immer radikaler, die Missachtung fundamentaler Rechte wie Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit immer offensichtlicher. Gerade im wenig kontrollierten Raum des Internets hat der Rechtspopulismus die Sozialen Medien als Propagandainstrument für sich entdeckt und nutzt diese Plattformen, um gezielt junge Menschen mit seinen Botschaften zu beeinflussen. Aus diesem Grund ist es jungen Künstler*innen ein Anliegen, dem Rechtspopulismus nicht das digitale Schlachtfeld zu überlassen und auf ebendiesen medialen Kanälen präsenter zu werden.

Mit dem Digital-Projekt ATONAL FÜR DEUTSCHLAND setzt sich PODIUM künstlerisch mit der skrupellosen Propaganda und den Hasstiraden rechtsextremer Politiker*innen auseinander. Videos mit Neukompositionen und einer Dekonstruktion der Original-Reden entlarven die Lügen. Ziel des Projekts ist es, die manipulative Kraft der rechtsextremistischen Argumentationen sichtbar zu machen und der ihr inhärenten Gefahr wirksam entgegenzutreten.

Die Videos werden in einer losen Folge ab dem PODIUM Festival 2024 auf verschiedenen digitalen Kanälen ausgespielt. Für die ersten beiden Videos konnten der Schweizer Komponist, Sänger und Performer Elia Rediger und der Regisseur und Video-Künstler Michael von zur Mühlen als verantwortliches Künstler-Duo gewonnen werden. Diese ersten Videos werden zum Auftakt des Projekts im Rahmen eines Konzertformats beim PODIUM Festival 2024 gezeigt, kombiniert mit Auszügen aus Theodor W. Adornos Rede zum Rechtsextremismus aus dem Jahr 1967 und Musik, die sich u.a. mit Fällen der Zensur von künstlerischen Werken beschäftigt. Seinen Abschluss findet das digitale Projekt beim PODIUM Festival 2025 mit einem Konzert, bei dem Videos, Neukompositionen und traditionelle Choräle mit neuen Texten zu erleben sein werden.

PODIUM.tuned wird gefördert durch „tuned – Netzwerk für zeitgenössische Klassik“ der Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.