PODIUM ESSLINGEN
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ATONAL FÜR DEUTSCHLAND

Ein Text von Henrike Hoffmann

Wer nichts vor sich sieht und wer die Veränderung der gesellschaftlichen Basis nicht will, dem bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als wie der Richard-Wagnersche Wotan zu sagen: »Weißt Du, was Wotan will? Das Ende«, - der will aus seiner eigenen sozialen Situation heraus den Untergang, nur eben dann nicht den Untergang der eigenen Gruppe, sondern wenn möglich den Untergang des Ganzen. (Adorno, 1967, S.20)

Theodor Adornos Beobachtungen, über bestehende und wachsende Tendenzen zum Rechtsradikalismus in der deutschen Gesellschaft, die er 1967 in seinem Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ teilte, klingen heute erschreckend aktuell. Rechtsextremistische Angriffe gegen die Grundfesten unserer Demokratie werden immer radikaler, die Missachtung fundamentaler Rechte wie Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit immer offensichtlicher. Gerade im wenig kontrollierten Raum des Internets hat der Rechtspopulismus die Sozialen Medien als Propagandainstrument für sich entdeckt und nutzt diese Plattformen offensiv, um insbesondere junge Menschen gezielt zu beeinflussen. Mit dem Kunstprojekt ATONAL FÜR DEUTSCHLAND gibt PODIUM Esslingen jungen Künstler*innen Raum, sich künstlerisch mit dem wachsenden Rechtsextremismus und der Gefährdung unserer Demokratie kritisch auseinanderzusetzen. Im Rahmen des Projekts entstehen Neukompositionen und künstlerische Videos, die propagandistische Reden von Politiker*innen musikalisch dekonstruieren und demaskieren. Die Videos werden im Rahmen von Konzertformaten und im digitalen Raum gezeigt. Sie sollen einen Beitrag leisten zur kritischen Reflexion und zur offenen Debatte.

Wahrhaft progressive Kunst widerspricht jeder Art der Essenzialisierung, der Fragmentierung und der Polarisierung. Sie widerspricht jedem Ideal der Reinheit und der Korrektheit; sie sucht nach Transgression; sie sucht nach Verbindungen, auch gerade nach solchen, die in der restlichen Welt nicht mehr möglich sind – zwischen Menschen, zwischen Traditionen und Stilen, zwischen politischen und ästhetischen Positionen –; sie bringt zusammen, was scheinbar gerade nicht oder nicht mehr zusammengehört, und sei es, dass sie dies im Modus des Streits zusammenbringt. (Jens Balzer, „Möglichkeiten, oder wir ersticken“)

Das Projekt startete mit dem Konzert ATONAL FÜR DEUTSCHLAND – Laute Musik gegen Rechtsextremismus am 26. April 2024, das im Rahmen des PODIUM Festivals in der Frauenkirche Esslingen stattfand. Neben Ausschnitten aus Theodor W. Adornos Vortrag von 1967 und standen darin Musikstücken, die sich insbesondere gegen Zensur und Eingriffe in die Kunstfreiheit wehren. wurde auch das erste künstlerische Video präsentiert.

Mit Text, Videos und Musik werden bei „ATONAL FÜR DEUTSCHLAND“ Hierarchien abgebaut und Zwänge abgelegt. Das kommt inhaltlich, klanglich und rhythmisch überaus komplex daher. Acht Kontrabässe, ein Flügel und wuchtige Hammerschläge formieren sich zu einem großen musikalischen Ganzen. Deshalb gibt es bereits am Einlass prophylaktisch Ohrstöpsel und zur Begrüßung das ausdrückliche Versprechen an das Publikum: „Wir können über alles diskutieren.“ (Benda, Stuttgarter Zeitung, 29.04.2024)

Das erste Video in der Reihe stammt vom Schweizer Komponist, Sänger und Performer Elia Rediger und dem Regisseur und Videokünstler Michael von zur Mühlen. Ihr künstlerisches Video „Requiem für Alice“ dekonstruiert die hasserfüllte Rede von Alice Weidel vom 31. Januar 2024 im Deutschen Bundestag. Das Werk gebraucht die künstlerische Form des Requiems als fiktives Szenario der Läuterung und lässt den unbändigen, immer wiederkehrenden Hass dieser Rede deutlich spüren. Mit einem fiktiven Blick aus dem Jahr 2044 zurück konterkariert das Kunstwerk den unsäglichen Auftritt der Politikerin.

Dieses Kunstwerk ist ein Appell und soll zum Nachdenken und zur kritischen Auseinandersetzung anregen. Wir müssen als Künstler*innen und Kulturschaffende mit unseren Werken Menschen wachrütteln, sie irritieren und manchmal auch provozieren, aber immer bereit sein, Brücken zu bauen für einen konstruktiven Gedankenaustausch. (Elia Rediger)

Dass es eine schwierige Gratwanderung ist, dabei mit Originalmaterial umzugehen, ist allen Beteiligten bewusst.

Durch die musikalische Dekonstruktion und die Kontextualisierung wird die notwendige Distanz zum Original geschaffen. Für unsere Demokratie ist eine lebendige und streitbare Kunst unverzichtbar. Ihr Raum zu geben und die Demokratie mit Mitteln der Kunst zu verteidigen, ist mir als aktiver Musiker und als Künstlerischer Leiter von PODIUM Esslingen ein großes Anliegen. (Joosten Ellée, Künstlerischer Leiter von PODIUM Esslingen)

Beim PODIUM Konzertwochenende „WIDERSTAND, MUSIK & DEMOKRATIE“ im August 2024 im Kloster Bebenhausen feiert ein weiteres neues Kunstwerk in der Reihe im Rahmen eines Konzertformats PREMIERE, mit einer Neukomposition von Rike Huy und einem dramaturgischen und visuellen Konzept.

Nun, zur Frage der Abwehr lassen Sie mich nur noch ganz wenige Worte sagen. Ich glaube, die »Hush-Hush«-Taktik, also die Taktik, diese Dinge totzuschweigen, hat sich nie bewährt, und es ist sicher heute bereits diese Entwicklung viel zu weit gegangen, als daß man damit noch durchkäme. Daß man nicht moralisieren, sondern an die realen Interessen appellieren soll, habe ich Ihnen bereits gesagt. Ich wiederhole es nur noch mal. (Adorno, 1967, S.51)

Die Musikerinnen und Musiker beziehen Stellung – mutig, kritisch und mit ihrem ganzen künstlerischen Können. (Benda, Stuttgarter Zeitung, 29.04.2024)

Über die Künstler*innen

Elia Rediger

Elia Rediger, geboren 1985 in Kinshasa/Demokratische Republik Kongo, ist ein weitgereister Schweizer Künstler, Komponist, Dramatiker und Sänger. Nebst Orchesterkompositionen („Oh Albert“, 2016, Basel) war er Hausautor am Konzerttheater Bern (2016/2017), Frontmann der Popgruppe The bianca Story und des Big Band-Orchesters Brigade Futur 3. „Herkules von Lubumbashi – ein Minenoratorium“ war seine zweite Zusammenarbeit mit dem kongolesischen Choreographen Dorine Mokha nach dem Theaterstück „Oh Boyoma – 387 Strophen über eine vergessene Stadt“ (KonzertTheaterBern 2017). 2020 gründeten Mokha/Rediger gemeinsam mit dem kongolesischen Kurator Patrick Mudekereza und der Schweizer Dramaturgin Eva-Maria Bertschy die Group50:50. Nach dem plötzlichen Tod Dorine Mokhas entschieden sie sich die Mission der Group50:50 weiterzuführen und schlossen sich für eine neue Produktion mit Christiana Tabaro und Michael Disanka zusammen.

Michael von zur Mühlen

Michael v. zur Mühlen, geboren1979, studierte Musikwissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und Musiktheaterregie an der HfM »Hanns Eisler« Berlin. Er inszeniert seit 2004 genreübergreifend Schauspiel, Oper und zeitgenössisches Musiktheater u.a. am Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, der Oper Leipzig, dem Nationaltheater Weimar, dem DT Göttingen, dem Staatstheater Darmstadt, der Staatsoper Berlin und der Oper Halle. Eine wichtige Rolle spielt die Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht, dessen Werke »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«, »Leben des Galilei«, »Lehrstück« und »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« er inszenierte. Er ist regelmäßiger Gast bei Podiumsdiskussionen (u.a. Salzburger Festspiele, Akademie der Künste, Staatsoper Berlin, Brechthaus Berlin, Böll-Stiftung) und veröffentlichte Essays und Beiträge zu Musik und Theater in Zeitschriften wie Die Deutsche Bühne und Theater der Zeit. Neben seiner Tätigkeit als Regisseur und Theaterleiter lehrt Michael v. zur Mühlen im Bereich Regie, Dramaturgie und Theatertheorie. 2019 hatte er die Bertolt-Brecht-Gastprofessur der Stadt Leipzig inne.

Lisa Charlotte Friederich

Rike Huy